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François de La Rochefoucauld: Reflexionen

        Die Reflexionen oder Sentenzen und moralische Maximen sind eine Aphorismensammlung des barocken französichen Adligen. Noch als Jugendlicher las ich den Aphorismus darüber, dass nur harte Menschen wirklich zart sein können, und kehrte immer wieder zu seinen Lebensweisheiten zurück. Das letzte Wort im unterschätzten Film Ridley Scotts "The Counselor" (2013) lautet "Nichts ist grausamer als ein Feigling" und könnte ein Spruch des französischen Moralisten sein. " Gerechtigkeitsliebe ist bei den meisten Menschen nur die Besorgnis, Ungerechtigkeit zu erleiden ", schrieb der Herzog. Bissige, entlarvende Sprüche: das ist sein Stil. Hier sind noch mehr Perlen: Man begeht öfter aus Schwäche als vorsätzlich Verrat. Die Welt belohnt öfter den Schein von Verdienst als das Verdienst selbst. Schwache Menschen können nicht aufrichtig sein. Wahre Freundschaft verdrängt den Neid, wahre Liebe die Koketterie. ...

Steven Pinker: Aufklärung jetzt

        Das Handbuch des fortschrittsgläubigen Optimisten. Kant stellte Ende des 18. Jahrhunderts fest, dass die Menschheit nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, aber in einem Zeitalter der Aufklärung lebte. Pinker beschreibt den Weg, der seitdem gegangen wurde. Alle Indikatoren für Wohlstand, Gesundheit, Frieden und Freiheit zeigen weltweit ein eindeutiges Bild: die Zeiten werden besser und besser. Und Pinker erwartet eine weitere Verbesserung: noch mehr Wohlstand, noch weniger Gewalt, noch bessere Technologie. Auch an weiteren sozialen Fortschritt glaubt Pinker. Das ist alles schön und gut, aber sein Optimismus scheint einen blinden Fleck zu haben, und dieser verdeckt, welch ein Zufall, die Schattenseiten des Fortschritts. Wir leben, als hätten wir fünf Erden. Die Umweltverschmutzung ist katastrophal. Ressourcen, die nur einmal verbraucht werden können, werden auf immer umweltschädlichere Weise geschürft und sind für die Nachwelt verloren. ...

Peter Vardy: Das Gottesrätsel

        Ein neues Buch zu lesen, ist ein freiwilliger Entschuss zu zusätzlicher Arbeit, die nicht unmittelbar belohnt wird. Das Gehirn strebt nach geringerem Energieverbrauch, darum glaubt es lieber, als dass es denkt. Als christlicher Konvertit erlebte ich mit 15-16 eine Art Drogenrausch durch mein Belohnungssystem, wennimmer ich dem Nachdenken über Gott und die Welt den Entschluss, einfach dem christlichen Dogma zu glauben, vorzog. Zweierlei kann mich zum Lesen motivieren: Interesse und Leidensdruck. Das letzte Buch, das ich aus Leidensdruck gelesen habe, war Peter Sloterdijks "Du musst dein Leben ändern", was angesichts des Titels nahezu poetisch ist. Das war 2017. Aber in den Jahren 2003 und 2004 fing ich neue Bücher fast ausschließlich aus Leidensdruck an. Zweidrei Bücher des britischen Theologen Peter Vardy waren dabei. Langatmige, haarspalterische analytische Philosophie, die letztlich zu keinem Ergebnis kommt. Theologisch relevant ist nur...

Esther Vilar: Alt

        In diesem Winter werde ich 39, für mich ist es Ende Oktober. Ich hoffe, der November wird warm und der Dezember "weihnachtlich". Mit 50 werde ich Lebenssilvester feiern, nicht Lebensneujahr!, und dann ist meine Lebenszeit zu Ende. Eine andere Zeit beginnt: ich werde alt. 50 ist die Deadline, die auch Esther Vilar in diesem Buch setzt. Spätestens mit 50 darf man sich nicht mehr als junger Mensch betrachten. Man darf schon, doch es ist unwürdig. Aber was sehen wir? Die Gesellschaft altert, doch es grassiert ein Jugendwahn wie noch nie. Für die Bevölkerung Deutschlands ist es, auf das Lebensjahr übertragen, durchschnittlich Ende November. In Uganda ist Frühsommer. Ich sehe das Optimum bei Ende August: einem Land geht es am besten, wenn das Median-Alter bei 29 ist. Rein theoretisch, natürlich, denn jedes Land hat eine andere Geschichte, und die Zusammensetzung der Alterspyramide ist nur ein Kriterium der allgemeinen Wohlfahrt unter vielen. ...

Esther Vilar: Heiraten ist unmoralisch

        MGTOW-Gurus predigen: "All women are whores". Und dann vergleichen sie den Straßenstrich, nein, nicht mit dem Puff, sondern mit der Heiratsprostitution. Die Frau gibt dem Mann Sex und lässt sich von ihm ein Leben lang versorgen. Darum ist heiraten unmoralisch. Ironischerweise hat gerade der männerfeindliche, nicht der kooperative Feminismus dafür gesorgt, dass Ein-Verdiener-Haushalte nicht mehr finanzierbar sind. Die meisten Frauen können sich nicht mehr erlauben, sich von ihren Männern aushalten zu lassen. Der Krieg der Geschlechter, die Aufkündigung der Kooperation und die totale Konkurrenz, haben Frauen und Männern geschadet, und nur dem kapitalistischen System genützt. Die Emanze will nicht nur wie der Mann sein, sie will gleich wie die schlimmsten Männer sein: narzisstisch, soziopathisch, machtgeil. Die abartigsten Abominationen unter den Männern sind Vorbilder für "starke und unabhängige" Frauen. Da lief etwas schlief. Es hätte sich...

Esther Vilar: Die Erziehung der Engel

        "Die Erziehung der Engel. Wie lebenswert wäre das ewige Leben?" von 1992 bzw. die Neuauflage "Die Schrecken des Paradieses. Wie lebenswert wäre das ewige Leben?" von 2009 handelt von der konkreten Vorstellung des ewigen Lebens, wie es im christlich-abendländischen Kulturkreis erstrebt wird. Humorvoll zeigt Vilar, dass ein ewiges Leben nichts als ewige Langeweile wäre, erst recht in einer Welt ohne Sorgen, Nöte und Ängste, halt eben im Paradies. Und hier ist das Buch gegen den Strich zu lesen: nicht das langweilige ewige Leben ist das Problem, sondern das Elend des zeitlichen Lebens. Wenn wir unseren Lebenssinn aus Problemen, Sorgen und Kämpfen beziehen, wenn wir den Wert des Lebens erst durch Leid, Schmerz und Traumata erfahren, dann stimmt etwas nicht mit der anderen, sondern mit dieser Welt nicht. Da sind wir bei Schopenhauer: Glück ist nur Abwesenheit von Leid. Darauf will Vilar unfreiwillig hinaus. In letzter Konsequenz führt das z...

Esther Vilar: Der betörende Glanz der Dummheit

      Dumme Menschen überschätzen sich selbst und werden von anderen überschätzt. Hohes Selbstvertrauen scheint ein Zeichen der Intelligenz zu sein, ist aber nur ein Symptom der Dummheit und Ignoranz. Dummen Leuten wird es nicht langweilig, immer dasselbe zu tun. Das wird als Hartnäckigkeit verkauft und führt zum Erfolg: zu einem Erfolg, den der Klügere angesichts der Eintönigkeit des dahin führenden Lebens nicht anstrebt. Dummköpfe können die Klügsten täuschen, weil intelligente Menschen sich Dummheit nicht vorstellen können. Dumme haben weniger Sorgen, weil sie nicht die Konsequenzen ihres Handelns absehen können. Dumm kickt gut. Dumm fickt gut. Und Dummheit ist eine größere Bedrohung für die Menschheit als das Böse, stellte ein kluger Mensch zur Nazizeit fest. Wer das war, hätte Esther Vilar locker gewusst. 

Esther Vilar: Der dressierte Mann (Trilogie)

      Im heißen Juli 2006, am letzten Tag des Sommersemesters, fügte ich meinem Philosophiestudium die Gender Studies hinzu. Die ersten drei Wochen der Semesterferien gehörten der ledendären Trilogie der bezaubernden Esther Vilar. Diese bewundernswerte Frau müsste Feministin genannt werden, sofern dieses Wort gut gemeint und nicht pejorativ verwendet wird. Im ersten Buch geht es darum, dass Frauen auf Männern parasitieren. Im zweiten, wie sie es tun. "Das polygame Geschlecht" erörtert, wie der Egoismus der Frau im Mann Polygamie und Pädophilie befördert; Frauen benehmen sich wie Kinder, nutzen Beschützerinstinkte der Männer aus, und manche so konditionierten Männer werden dann von der Kombination aus kindlichem Verhalten und Neotenie sexuell erregt, sprich, zur Pädophilie konditioniert. Die Marxistin (Linksfeministin?) glaubte halt, wie ihre Rivalin, (Rechtsfeministin?) Alice Schwarzer, dass nurture alles und nature nichts ist. Das dritte Buch biete...

Jürgen Roloff: Jesus

        Geschenk von einem Freund, Anfang 2018 gelesen. Dünnes Buch aus der Beckschen Reihe. Sorgfältig historisch recherchiert, nur um im Detail dasselbe zu erzählen, was Karlheinz Deschner in der ersten Hälfte von "Abermals krähte der Hahn" in Umrissen bereits erzählt hat. Es gab die Essener, es gab den Lehrer der Weisheit. Dieser war als reale Person eine legendärere Persönlichkeit als der junge nennen wir ihn ruhig mal Reformator Jeshua ben Yusuf, den es vielleicht auch nicht gab, und wenn doch, dann keinesfalls als Sohn Gottes. Die Evangelien sind keine Zeugenberichte, sondern Nachdichtungen. Jesus, wenn es ihn gab, behauptete nie, der Weg, die Wahrheit und das Leben zu sein. Er hätte die Gründung einer neuen Religion nicht nur nicht gewollt, sondern entschieden abgelehnt. Bei der Geschichte der Region zwischen Aleppo und Petra, dem womöglich eigentlichen Mekka des Propheten, ist besonders bei bibeltreuen Christen ein auffallender Mut zur Lüc...

Wolf Jahnke: Die 100 besten Action-Filme

      Im Frühjahr 1998 lieh ich mir mit freundlicher Unterstützung eines Erwachsenen dieses Buch in einer Unibibliothek aus, zusammen mit faszinierenden Statistik-Büchern wie den Fischer-Weltalmanachs und ähnlichen Perlen der Weltliteratur. Ich war 15 und mein Deutsch war noch nicht perfekt, da ich erst mit 13 nach Deutschland kam. Aber ich sah fern und las Bücher, um die Sprache schneller zu lernen. Aus purer Nostalgie kaufte ich mir das Buch als Zivi im Herbst 2004 in einem Bücherantiquariat. Die ganze Schulzeit in Deutschland lag dazwischen, eine gefühlte Ewigkeit. Und schon damals löste die Broschüre Wehmut aus. 1998 lernte ich durch das Filmbuch mit kurzen und knappen Texten die Filme "Running Man" (1988), "Driver" (1978) und die Lethal-Weapon-Filme kennen, verfolgte die Ausstrahlungstermine in den Programmzeitschriften, von denen ich TV Today bevorzugte, und sah die Filme. Es ist ein kurzweiliges Buch mit ...

Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab

        Das Buch ist Papier gewordenes ZDF: Zahlen, Daten, Fakten. Alles sauber recherchiert und sorgfältig analysiert. Und Intelligenz ist zu großen Teilen vererbbar. Aber langsam... Beim ersten Lockdown Ende Frühjahr 2020 rasierte ich mir eine Glatze, weil die Friseure lange nicht öffneten. Mit Hemd und Glatze wurde ich für einen Nazi gehalten und symbolisch angespuckt (man meinte mich und spuckte daneben). Das Buch hatte ich nicht dabei. Aber noch langsamer... Es war Spätsommer 2017, Beginn des Schuljahrs, was mich ja nicht einmal mehr peripher tangiert. Ich war arbeitslos, suchte mir Gelegenheitsjobs, auch als Proband für Versuche an lebenden Menschen mit einem Oxytocin-Nasenspray. Als Berufsqualifikation war eine Autismus-Diagnose erforderlich, und die hatte ich seit Ende 2016. Kurz und gut: ich hatte wenig Kohle. Nach einem Skandal-Artikel und dem folgenden Shitstorm doublete Thilo Sarrazin klugerweise down und weitete diesen zu einem...

Bernward Gesang: Angeklagt: Gott

        Im ersten Philosophiesemester lieh ich mir das Buch des jungen deutschen Philosophen in der Unibibliothek aus. Es war ein Elend. Im depressiven Januar 2006 fuhr ich mit dem Semesterticket für Niedersachsen, Hamburg und Bremen irgendwohin in Niedersachsen und las dieses begeisterungsferne Buch. Nur die auf den mühevoll umgeblätterten Seiten trostlos perennierende Schwermut hielt mich bei der Lektüre. Das Buch handelt vom Scheitern der Theodizee. Es ist ein philosophischer Beweis des Atheismus. Schwerfällig, langatmig, nichts wirklich Neues dabei. Und dann hatte das Buch noch das Pech, in derselben Bibliothek wie die Werke von Emil Cioran zu stehen, die ich, natürlich, schon vorher las. An Cioran kommt nix ran. Nach der Begegnung mit dem rumänischen Nihilisten schmeckte alles fad. Also ist die Anti-Theodizee von Gesang vielleicht doch ein wenig besser, als ich mich erinnere.

Gustav Wyneken: Abschied vom Christentum

        Eine Light-Version von "Abermals krähte der Hahn", die mir damals aber reichte. Im Juni 2001, nach zweieinhalb Jahren Christseins und vier Monaten innerer Emigration in die letzte mentale Zuflucht vor dem Suizid, las ich dieses harmlose behäbig dahinargumentierende Buch. Der Autor scheint ein zufriedener Mensch zu sein, der nie ein religiöses Bedürfnis hatte, und nie etwas mit der christlichen Tradition anfangen konnte. Trocken stellt er fest, dass es für die Existenz Christi keine Beweise gibt, und das Christentum im Grunde nur auf Legenden begründet ist. Aber selbst die Existenz Jesu wäre noch keine Existenz Christi. Es kann auch einen Wanderprediger namens Jeshua ben Yusuf gegeben haben, doch er hat das Christentum als Religion nicht gegründet. Wenn es ihn gab, dann war er ein jüdischer Fundamentalist, der, anders als militante Zeitgenossen, das klassische Judentum mit Predigt und gutem Beispiel, und nicht mit militärischer Gewalt, wiederh...

Niall Ferguson: Krieg der Welt

        BANG!!! Das war der Teaser. Zurück zu Lück. Leipzig, Sommer 2017. Da gibt es eine schöne und große Buchhandlung nicht weit von der Universität. Und da stand auf einmal dieses Buch des mir durch Dokumentationen über den Westen und den Rest der Welt bekannten Historikers Niall Ferguson. Ein exzellenter Orator, der mich sozial Gechallengten durch seine Artikulation, Argumentation und Körperhaltung beschämt. Nach einer politischen Debatte auf Youtube mit seiner Beteiligung musste ich feststellen, dass Reden nicht meins ist, und beim Schreiben bleiben. Ich hätte Aberstunden Material für einen Youtubekanal, aber so wie ich rede: Stimme, Klangfarben, Intonation, alles mangelhaft bis ungenügend. Doch man kann nicht alles sein. Der Krieg der Welten, von dem der große Science-Fiction-Autor H. G. Wells schrieb, fand zum Glück nicht statt, doch dieses Glück haben wir nicht genutzt, und einen "Krieg der Welt" veranstaltet: Balkankriege, zwei Weltkriege,...

Werner Gitt: Fragen

        Der Fischer-Weltalmanach des christlichen Konvertiten. Oder das Buch der religiotischen Rhetorikrekorde? Am 21.2.1998 hatte ich eine mystische Erfahrung, Ende Oktober 1998 las ich dieses Buch. Es war wie eine Infektion mit unbekannter Inkubationszeit, ich war bis zu einem Alter von 15 Default-Nihilist, nach der mystischen Erfahrung Mystiker, offen für Buddhismus, Taoismus und Tiefenpsychologie, und um den 17.10.1998 plötzlich Christ. Und das war das falsche Buch zur falschen Zeit. Ich wünschte, ich hätte einen Mentor gehabt, der mir als Gegenmittel ein Buch von Karlheinz Deschner gegeben hätte, am besten "Abermals krähte der Hahn". Doch der Gott der Bibel war mir einfach zu vertraut. Seine wechselnden Launen, seine subtilen und offenen Drohungen, seine Unverlässlichkeit, Soziopathie und emotionale Grausamkeit: die Fortsetzung des narzisstischen Missbrauchs mit religiösen Mitteln. Ich bin Gott, du bist nichts; du hast mir alles zu verdanken; d...

Sophokles: Elektra

        Um den 10. April 2020 habe ich einem Freund, der Deutschlehrer ist, versprochen, Goethes Iphigenie zu lesen. Ich las das Drämchen an einem Tag und war wenig begeistert. Auch das Autoritätsargument, dass Hegel das Machwerk toll fand, konnte mich nicht überzeugen. Und so verfasste ich eine kurze Satire auf die Figur. Ich las dann aber auch die ursprüngliche Orestie, und war von der sophokleischen Elektra den ganzen Sommer begeistert. Das spannende und klug geschriebene Drama, das den aufmerksamen Leser die Charaktere, das Geschehen und die Kulissen bildlich vorstellen lässt, beeindruckte mich auch mit der Klarheit und Konsequenz. Das solare Prinzip siegt, Apollo tötet die Schlange. Wie schaffte es Sophokles, Frauencharaktere zum Verlieben zu Papier zu bringen? Von ihrem Aussehen geben die Dramen nicht viel preis, nur dass sie halt eben jung und wohlgeraten sind. Trotz ihrer heldenhaften Entschlossenheit sind das keine Mannsweiber, das Leid l...

Sophokles: Antigone

     Der Vater, ein König, will die Braut des Sohnes wegen Landesverrates hinrichten lassen. Die Schwester der Braut fragt, ob das klug sei, schließlich wird der Sohn wohl die Frau, die er heiraten möchte, doch sehr lieben. Der Vater antwortet lapidar: "Es sind noch andre Äcker da zur Saat". Die Dialoge der Figuren, die alle aus ihrer Perspektive recht haben, besonders der selbstherrliche aber gerechte König Kreon, die unerschrockene und doch zarte Mieze Antigone, Königssohn und ihr Fast-Ehemann Haimon, und, natürlich, der weise Seher Teiresias, sind geiler als die coolsten Rap-Battles, um auch das Interesse der Jugend an diesem für die Ewigkeit geschriebenen Drama zu wecken. Wohl dem Bildungssystem, das dieses Buch im Schulprogramm der Oberstufe hat. Die Degeneration des Deutschunterrichts bekomme ich heute nur auf Umwegen mit, aber ich kann mir durchaus vorstellen, welche Goldperlen der Weltliteratur der nächsten Generation verloren gehen...

Herfried Münkler: Imperien

      2015 muss bei Münkler ein Sinneswandel stattgefunden haben, vielleicht schon früher. Als ich bei Dussmann an der Friedrichstraße bei einer seiner öffentlichen Diskussionen zuhörte, wirkte er schon weichgespült. Dabei ist es doch nicht zu lange her, als er ein nüchternes Lehrbuch der Realpolitik vom Stapel ließ. Es war eine angenehme Lektüre, mit beiden Beinen und dem Boden in der Realität. Parallelen werden gezogen auf systematische Art, kein Vergleich irgendzweier Imperien ist Tabu. Man lernt über den Hegemonialzyklus, Machtsorten (militärisch, politisch, ökonomisch und ideologisch, von Hard- nach Softpower sortiert) und die "augusteische Schwelle". Da riecht es fast schon angenehm singlemaltig nach Spengler.

Helmut Metzner: Vom Chaos zum Bios

        "Vom Chaos zum Bios: Gedanken zum Phänomen Leben" ist der ältere unbekannte Cousin von "Cosmosapiens", dem derzeitigen Buch der Bücher. Im Juli 2019 las ich dieses antiquarisch erworbene Buch, Ende Anfang August, zwei Wochen später, kaufte ich die Neuerscheinung "Cosmosapiens". Es geht, wenngleich nicht so anspruchsvoll, um die Entstehung des Lebens aus vermeintlich nichts. Dass das Nichts als Chaos bezeichnet wird, ist bezeichnend. Chaos, das Weibliche, gebiert den Bios, das Kind Leben. Der Geist, den dieses entwickelt, ist das Männliche. Meine Bemerkung, wohlgemerkt, denn das Buch ist metaphysikfrei. Insofern handelt es sich um eine chthonisch-tellurische Bottom-Up-Lebensgeschichte, wie sie in der gegenwärtigen Naturwissenschaft, um stark zu untertreiben, nicht ungewöhnlich ist. Der Ton der Erzählung ist nüchtern und trocken. Die Wege sind nachvollziehbar. Es gibt viele Formeln. Wer sich langweilen will, kann den hunderts...

Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

      Absolute Must-reads zu kommentieren heißt, neue, kritische Aspekte zu beleuchten. Hier ist ein Buch, dass es nicht nicht geben kann, keine kontingente subalterne Neuerscheinung. Was ist neu an meiner Betrachtung der Grundlegung, die ich 2006, also vor 15 Jahren, im Philosophiestudium, im 3. Semester, las? Einiges. Der kategorische Imperativ, zu dem der INTP-Preuße hinführen will, ist ein perfektes Regelwerk für Autisten. Kant, ich und andere Menschen mit Asperger-Syndrom, typischen oder untypischen autistischen Merkmalen, die stets angeboren sind, könnten auf dieser Basis eine Ethik begründen. Ein Volk von Teufeln, wie Kant selbst behauptet, nicht. Ja, wenn sie sich daran halten würden, aber das ist der Punkt: sie werden sich nicht daran halten.  Die meisten Menschen sind zu dumm, zu egoistisch und zu misstrauisch, um nach dem kategorischem Imperativ zu leben. "Ich zuerst" gilt nicht nur für Narzisste...

Peter Ward, Joe Kirshvink: Eine neue Geschichte des Lebens

        Stell dir vor, du liest mit Begeisterung das Buch von Joe Kirshvink und Peter Ward "Eine neue Geschichte des Lebens: Wie Katastrophen den Lauf der Evolution bestimmt haben", und jemand spricht dich unvermittelt an, um dich zur biblischen Schöpfungslehre zu bekehren. So geschah mir im Spätherbst 2019. Ich las dieses Buch zu Hause und in der Bahn, in den Einkaufszentren in Steglitz und in Mitte, bei Kuchen und bei Eis. Die Begeisterung kannte kein Ende, aber das Buch. Die Probleme der ersten Landpflanzen, ein extrem spannendes Kapitel. Und dann die nüchterne Feststellung gegen Ende, dass die Erdatmosphäre immer weniger Kohlendioxid beinhaltet, in einigen Jahrmillionen wird er nicht mehr für die Photosynthese ausreichen. Auf lange Sicht stirbt das Leben nicht am Treibhaus- sondern am Keinerzuhauseffekt. Ob das Anthropozän den Planeten so terraformen wird, dass die Zukunft des Lebens auf der Erde nicht mehr aus seiner Vergangenheit nachvoll...

Roger Penrose: Zyklen der Zeit

        Mein Leben fühlt sich nicht nach Abitur und einem mit einer Eins abgeschlossenen Philosophiestudium an. Vielmehr so, als hätte ich die ersten 33 Jahre im Gefängnis verbracht. Daher die Obsession mit der Zeit. Big Bang, die Steady-State-Theorie, Big Crunch, die ewige Wiederkehr des Gleichen, oder doch Big Rip? Für mich keine Gedankenspiele, sondern existenziell wichtig. Selbst wenn es sich um Zeiträume handelt, die für den menschlichen Verstand unüberschaubar sind. Aber alle Zeiträume sind überschaubar. Der große mathematische Physiker seiner Zeit, die nie so recht meine wurde, abgesehen vom kurzen Hoffnungszeitraum 1995-1998, entwirft eine Theorie des zyklischen Universums basierend auf dem Gesetz der Entropie. Das Zauberwort heißt Gravitation. Körper üben aufeinander Anziehungskräfte aus. Schade, dass meiner nicht, dachte ich im September 2017, und beschloss, mir einen Body zu bauen. Bevor ich aber das Fitnesstraining intensivierte, ...

Martin Zimmermann: Gewalt: Die dunkle Seite der Antike

       Alexander Kluge interviewte Zimmermann zu seinem 2013 erschienenen Buch, ich hörte auf Youtube zu. Ein paar Jahre später erwarb ich das Buch antiquarisch, wahrscheinlich war das der Bücherantiquariatsstand im Einkaufszentrum an der Schönhauser Allee. Ich las es zur Hälfte und legte es weg, und las es nach fast drei Jahren zu Ende. Langweilig war es nicht, nur hatte ich genug von Gewalt. Aber so viel Gewalt war in der Antike gar nicht: meistens war es nur Prahlerei. Das gefürchtetste Foltermittel, das hohle metallene Stier, in dem der zu Tode Verurteilte eingeschlossen und lebendig gegrillt wurde, ist als Drohkulisse bekannt. Wer jemals auf diese Art exekutiert wurde, ist nicht überliefert. Gewalt mehr als Legende zum Einschüchtern, weniger als permanenter blutiger Terror. Das Imperium Romanum war angeblich friedlich, nachdem es befriedet wurde. Nach den Bürgerkriegen fand brutale Gewalt nur an den Grenzen statt, umso mehr faszinierten die ...

Jörg Baberowski: Räume der Gewalt

        Irgendwelche Idioten bashten im November 2015 den Historiker Jörg Baberowski, also kaufte ich kurzerhand sein neues Buch. Gewalt. Wie alltäglich und allgegenwärtig sie bis zur Renaissance noch war. Erst seit wenigen Jahrhunderten ist sie räumlich begrenzt, aber auch zeitlich: es herrscht nicht permanent Krieg. Menschen brauchen Grenzen. Gewalt braucht Räume. An der Ostfront im Sommer 1941 waren Bestialitäten alltäglich, die normalerweise unvorstellbar waren. Aber der Gewaltraum wurde durch den totalen Vernichtungskrieg halt eben geschaffen. Was in dem einen Kontext die Tat eines irren Psychopathen ist, ist in einem anderen Kontext der Alltag eines tapferen Soldaten. Stalins Säuberungen fanden nicht statt, weil der rote Terrorstaat allmächtig war, sondern weil er schwach war. Er musste seine Macht durch Grausamkeit zur Schau stellen, um sie nicht zu verlieren. Die Herrschaft der Kommunisten war durch nichts legitimiert, also mussten sie s...

Karim Akerma: Antinatalismus

        Dieses Buch ist ein Handbuch. Die Druckausgabe ist leider unhandlich, wer sie kennt, weiß, wie gemeint. Aber der Inhalt läßt sich lesen. Im Alter von 17-18 kam mir der Antinatalismus als spontane Idee. Ich kannte das Leid und Elend der Menschheit aus Geschichtsbüchern und Filmen, und im Sommer 2000 kam ich nach erstem Kontakt mit psychotherapeutischer Literatur an Informationen darüber, wie weit verbreitet sexueller Kindesmissbrauch ist. Das brachte das Fass der affektiven Empathie zum Überlaufen, und ich dachte, dass letztlich nur der Verzicht auf Kinderzeugung den ewigen Kreislauf des Leids stoppen kann. Mit dem Antinatalismius konfrontiert, verhielten sich selbst die vernünftigsten der mir damals bekannten Menschen zynisch, herzlos, wie Sadisten und Soziopathen. Wer so etwas denkt, mit dem stimmt doch etwas nicht, war der wenig intelligente Schluss. Dass es noch Antinatalisten außer mir gab, erfuhr ich erst Jahre später, und eine...

Marie-France Hirigoyen: Die Masken der Niedertracht

        Im Herbst 2003, mit 20, las ich dieses Buch der französischen Psychotherapeutin Marie-France Simone Ernestine Hirigoyen. "Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann", heißt der Untertitel. Gerade sehe ich, dass ihre Bibliographie 2020 um den Buchtitel "Die toxische Macht der Narzissten und wie wir uns dagegen wehren" bereichert wurde. Man sieht, die Frau ist informiert. Den Begriff "Narzisstischer Missbrauch" prägte nach eigener Aussage Sam Vaknin im Jahre 1995. Ich wünschte, ich hätte gleich in dem Jahr davon erfahren. Im Buch der französischen Psychotherapeutin geht es um emotionalen Missbrauch, psychische Gewalt, ziemlich allgemein einerseits, und andererseits doch an unterschiedlichen Beispielen erläutert. Solche Bücher kann man erst mit Gewinn lesen, wenn man auch die andere Seite kennt: ein Leben ohne. Immerhin bestätigte sich nach der Lektüre meine Vermutung, nicht verrückt zu sein, sondern permanent et...

Thomas Macho: Das Leben nehmen

        Im Juni 1998 dachte ich mir einen Superhit aus, in dem im Bridge oder Refrain die Wortfolge: "Tommy Tommy, Macho Macho (x4)" vorkommt. Macho nicht wie Matscho, sondern wie der österreichische Philosoph ausgesprochen. Ende Februar 2019 war es warm in Berlin. Ich aß im Eiscafé Eis und las dieses neu erschienene Buch. Es ist eine unterhaltsame Kulturgeschichte des Suizids, nun gut, der Österreicher ist ja auch Kulturwissenschaftler. Vor allem das Design und das Layout des Buches sind durchaus angenehm, was für autistische Leser wie mich außerordentlich wichtig ist. Das Werk selbst bleibt zwar hinter den Erwartungen zurück, wobei ich relativieren muss: hinter meinen Erwartungen. Für mich ist der Suizid seit der Pubertät ein ernstes Thema, so ernst, dass bisher kein gelesenes Buch dem gerecht geworden ist. Auch das manichäische Machwerk "Ever Deeper Honesty" nicht, obschon es das ehrlichste Buch über die Conditio Humana ist, das mir bekannt ist.

Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos

        Anfang 2004 fand ich, auf der Suche nach Suizidermutigungsliteratur, dieses absurde Werk des revoltierenden Existentialisten. Im Grunde sei jeder Mensch ein Sisyphos, so der Franzose. Allein schon, weil wir alle vergeblich gegen den Tod kämpfen. Also? ... Aber nein. Es geht vielmehr darum, dass wir die Absurdität des Lebens erkennen, um dagegen zu revoltieren. Klasse. Warum sich nicht gleich umbringen? Aber nein. Das wäre dann nicht mehr Existentialismus, sondern Nihilismus. Wir müssen auch ohne die Peitsche des strafenden Wüstengottes, an den Camus offensichtlich nicht glaubt, den Stein auf den Berg rollen. Erst recht, weil er wieder runterrollt. Das ist doch absurd. Also warum nicht gleich... Aber nein. Wir müssen uns einfach mit der Tatsache versöhnen, dass das Leben absurd ist. An Gott, d. h., an einen Sinn zu glauben, gerade weil es absurd ist, wäre ein "Sprung". Der Sprung Kierkegaards von der Verzweiflung in den Glauben sei unre...

Ian Morris: Krieg. Wozu er gut ist

        Der Krieg ist nicht nur der Vater aller Dinge, sondern der Motor der Kultur und Zivilisation, so der Historiker Ian Morris. Der Krieg verhindert auf dialektische Weise Gewalt, macht Gesellschaften friedlicher. Der Preis ist natürlich hoch. Doch auch der Gewinn lässt sich sehen. Wer voreingenommen mit moralisierenden Fragen wie "Aber um welchen Preis?" herangeht, wird nichts begreifen. Die Realität hält sich nicht an Kants kategorischen Imperativ. Geschichte aus normativen Blickwinkeln zu betrachten, macht Geschichtsforschung zur politischen Ideologie. Anders Ian Morris: seine Herangehensweise ist erfrischend politiknüchtern und nicht nihilistischer als ein deskriptiver Zugang eben sein muss. Nicht nur der Krieg ist zu etwas gut, sondern auch das Buch darüber, wozu der Krieg gut ist. Auf der Suche nach diesem Buch sah ich, wenn ich mich recht entsinne, am 27. oder 28.2.2017, die bisher miezenhafteste klassische Mieze.

Ian Morris: Wer regiert die Welt?

        Ein Buch wie Civ IV BTS, kein Witz! Die Entdeckung des Herbstes 2015, die Thomas Pikettys vielgeoscarten Nobelbestseller in den Schatten stellte, zumindest für einen interdisziplinär Geschichtsinteressierten wie meinereiner. Es werden tatsächlich Punkte verteilt: für Größe, Bevölkerungszahl, Kultur und Technologie, genauso wie im Civilisations-Computerspiel. Alles objektiv und ideologiefrei, denn der Mann war, bevor er Historiker wurde, Archäologe. Besonders spannend ist die Vorhersage für das 21. Jahrhundert: die berechnete Punktzahl der Chinesen, die von soetwainungefähr 600 bis 1800 vorn lagen, und den Westen nun wieder überholen werden, liegt jenseits von allem, was wir heute kennen. Es wird eine Welt von einer anderen Qualität sein, so wie sich die Welt heute von der der Antike und des Mittelalters unterscheidet. Matrix? Black Mirror? Nicht abwertend, sondern technologisch wertschätzend gemeint. Nun, wir werden sehen.

John Horgan: An den Grenzen des Wissens

        Im Januar 2004 las ich dieses damals noch frische Buch und war schon als Jüngling verwundert, wie manipulativ und unredlich Wissenschaftsjournalismus sein kann. Da werden Koryphäen ad hominem vorgeführt, um zwischen den Zeilen zu sagen: dieser Gigant der Wissenschaft ist zu alt, und mit ihm wird das Zeitalter der Wissenschaft auch sterben. Jener große Wissenschaftler ist ein Spaßvogel, also darf man seinen Optimismus nicht ernst nehmen. Wie oft dachte man, alles sei bereits entdeckt. Wie oft irrte man. Aber am Ende des 20. Jahrhunderts, da war nun wirklich alles entdeckt! Das war das Ende der Wissenschaft wie Wissenschaftsjournalisten sie kennen. Seitdem nähern wir uns dem neuen dunklen Zeitalter. Die Labore verfallen, es gibt keine Entdeckungen mehr, keine neuen Theorien, die Wissenschaftler sterben, die Forscher werden Gamer und Pornostars, die Universitäten werden zu Kirchen und Moscheen, besonders im UK und den USA. Es war halt Mode z...

Hedonikus: Gesammelte Fragmente

        Das nur fragmentarisch erhaltene Gesamtwerk des antiken Philosophen enthält neben den berühmten Abhandlungen über das Etwas und über die Kugel auch interessante epistemologische Einsichten. Der niemandsländische Denker, der weder zu den Griechen noch zu den Römern eindeutig zu zählen ist, unterscheidet in der Wissenschaft objektive und subjektive Fragen. Objektive Fragen sind die Was- und Wie-Fragen, Fragen nach der Substanz und der Funktion. Subjektive Fragen sind die Warum- und Wozu-Fragen, Fragen nach Intentionalität und Zweck. Was ist die Welt, fragt Hedonikus. Sie ist eine Mannigfaltigkeit aus Atomen, aus denen alles besteht, und die sich mit der Zeit zu immer komplexeren Formen zusammentun. Für die komplexeste Form hält er das menschliche Gehirn. Wie ist die Welt entstanden? Da vertritt Hedonikus die Steady-State-Theorie. Auf objektive Fragen gibt es sinnvolle Antworten, auf subjektive Fragen nicht. Denn Antworten auf objektive Fragen ...

Newal Barari: Eine weitere Geschichte der Menschheit

        So viele Geschichten der Menschheit sind geschrieben worden, warum nicht noch eine. Jahrtausendelang jagten und sammelten Jäger und Sammler. Sie kannten alle natürlichen Halluzinogene und lebten in Frieden und Peace. Der Übergang von Leben zu Tod wurde als harmonisch und fließend erlebt. Die Menschen lebten in kleinen Gruppen, sodass Erfahrungen vom hässlichen Tod, der Kakothanasia, nicht an den Rest der Menschheit weitergegeben wurden. Doch als die Verständigung zwischen den kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern durch die Weiterentwicklung der Sprache leichter wurde, wurden die Geschichten vom schrecklichen Tod durch Gewalt, Krankheit und Raubtiere tradiert und weitergegeben, und so entstand eine Kultur der Angst. Die Angst machte die Menschen sesshaft. Sie gründeten Stadtstaaten, die sich mit Mauern umgaben, um sich vor Tieren und Barbaren zu schützen. Aus Angst entstanden Religionen, mithilfe der Angst vor Göttern und Herrschern funkti...

Pitirim Sorokin: Social Mobility

          Das Standardwerk der Soziologie aus dem Jahr 1927 ist Buddenbrooks für Terminatoren. Das Auf und Ab in vier Generationen wird weitgehend bestätigt, und Analysen zeigen, dass nicht nur die moderne westliche Gesellschaft, sondern menschliche Gesellschaften im Allgemeinen soziale Mobilität nicht nur im hohen Maße zulassen, sondern gewissermaßen davon leben. Vitalität schafft Aufwärtsmobilität. Privilegien machen dekadent. Der Urgoßvater kam aus dem Nichts und baute alles auf. Er lebte bis zum Tod asketisch. Der Großvater ließ es sich gut gehen, aber vermehrte wenigstens noch das Vermögen. Der Vater wurde Künstler. Der Sohn wurde Penner. Ein Zyklus dauert ungefähr 120 Jahre. Mikroskopische Zyklen überlagern makroskopische, Kulturen/Zivilisationen leben länger als Familien.

Pitirim Sorokin: Social and Cultural Dynamics

        Das Buch ist eine Legende. Die Kulturen, Zivilisationen oder eben auch Ethnösse (Ethnos im Mikroplural) sind, da gibt der legendäre Soziologe dem noch legendäreren Geschichtsphilosophen recht, wie lebende Organismen. Und anhand empirischer Forschung stellt Sorokin in diesem Monumentalwerk fest, dass am Anfang jeder Kultur das ideationale (nach mir solare) Mindset vorherrscht, in der Mitte das idealistische (lunare) und zum Schluss das sensualistische (tellurische bzw. chthonische: die Begriffe sind vom Schweizer Historiker Bachofen, mit dem russischen Philosophen Dugin, und über ihn hinaus, benutze ich sie nicht so spezifisch wie dieser, sondern auf breiter noomachischer Front). Las ich das Buch 2018/19, rewjühe ich es nicht erst jetzt, sondern schon seit 2014 im Gedankenprotokoll "Das Wirkliche". Eine Vorlesung über die soziale und kulturelle Dynamik, die ich Anfang 2014 hörte, und die eigene Intuition machten es möglich, die Erkenntnisse aus...

Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit

        Der geschichtsphilosophische Thriller aus Karlsruhe. Bastardologisch erklärt Sloterdijk die vaterlose Neuzeit: Unternehmergeist, Fortschritt, Egozentrismus; Entdeckungen, Erfindungen, Eroberungen. Seit der Renaissance regiert das Neue und die Welt dreht sich immer schneller. Die Menschheit stürzt vorwärts. Ich bin der Sohn meiner rechten Hand: nicht meine Herkunft, sondern meine Entscheidungen bestimmen über mein Leben. Dabei zeichnete schon der göttliche Bastard Jesus den Weg vor, die Konquistadoren mussten ihn nur gehen. Die vaterlose Gesellschaft ist nicht die Folge der Industrialisierung, sondern die Voraussetzung der modernen Welt. Am Anfang steht das "keinen Vater haben", am Ende das "keinen Sohn hinterlassen", denn selbstverständlich ist der Antinatalismus die letzte Konsequenz.

Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft

        Um mich nicht arbeitslos auf Doktorandenstellen zu bewerben, schuftete ich freiwillig im Sommer 2016 als Leiharbeiter. Umzüge, Lagerarbeiten, Garten, und was nicht alles. Kurz vor 5 Uhr morgens musste ich das Haus verlassen, um nach einem übereinstündigen Weg erstmal zur Arbeit zu kommen. Natürlich war auch der Rückweg genausolang. Also las ich unterwegs: zunächst von Lew Gumiljow über die alten Hunnen bzw. die Xiongnu, als sie noch nicht Hunnen waren, und später Peter Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft. Die Aufklärung hat nie stattgefunden, stattdessen Anspannung und Enthemmung. Dass die Aufklärung die Menschen nur abgeklärt gemacht hat, fiel mir schon während der Schulzeit auf. Ich konnte all die Dummheit und Ignoranz um mich herum trotz all des wissenschaftlichen und humanitären Fortschritts nicht fassen. Insofern nichts Neues, was ich da las. Neu waren mir die Blicke, die ich als Student bei der Hegel-Lektüre im ÖPNV nicht erntete...

Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern

         Anfang 2016 die zähen ersten 100 Seiten gelesen, dann aufgehört. Im März 2017 den Rest gelesen. Auf einmal hatte ich wieder Interesse an dem Buch. Denn Ende 2016 bekam ich meine Asperger-Diagnose und erkannte, dass es in diesem Buch auch um meine Lebensakrobatik geht. "Freu dich, du bist behindert! Besorge dir einen Schwerbehindertenausweiß und lass dich für den Rest deines Lebens versorgen!" ruft mir die ultradekadente Gesellschaft durchaus wohlwollend zu. Doch ich denke: Behindert? Dann will ich erst recht für mich selbst sorgen. Autist? Dann will ich erst recht mit Menschen arbeiten. Auf Maslows Bedürfnispyramide klafft bei mir eine immense Lücke: für die Existenzbedürfnisse ist gesorgt, dann kommt lange nichts, dann aber ragt auf einem hohen Turm ein hohes Schloss aus Selbstverwirklichung und Selbsttranszendenz. Es war meisterhafte Lebensakrobatik, den Turm aufzurichten und das Schloss so hoch oben zu bauen. Die Angst vor dem Fall ...

Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

  Weber, Max: Die protestantische Ethik und der "Geist" des Kapitalismus. Bodenheim: Athenäum/Hain/Hanstein, 1993. Max Webers Werk „Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus“ befasst sich mit möglichen religiösen Ursachen für die Entstehung des Kapitalismus. Das Buch erscheint erstmals am Anfang des 20. Jahrhunderts; die geistig-religiösen Phänomene, die es behandelt, liegen also 200-400 Jahre zurück. Max Weber weist mehrfach darauf hin, dass die religiöse Einstellung der betreffenden Religionsgemeinschaften zu Anfangszeiten des Kapitalismus in Europa heute (also 1904/05, wobei 100 Jahre danach, am Anfang des 21. Jahrhunderts, erst recht) nicht mehr nachzuvollziehen ist, da das religiöse Paradigma, in dem das Seelenheil an allererster Stelle stand, nicht mehr gilt. Das Buch ist schwer lesbar und etwas zu detailversessen, aber es handelt sich um ein monolithisches Werk, welches um einen Gedanken aufgeb...

Konfuzius: Gespräche

          Der erste Kantianer aller Zeiten kam aus China und lebte 2200 Jahre vor Kant. Genauso zu Unrecht des pedanteristischen Drögianismus beschuldigt wie sein Meister aus der Zukunft, genausoviel ein fröhlicher und genausowenig ein weltfremder Turmphilosoph gewesen wie dieser. Die Gegnerschaft gegenüber Laotse liegt bei Konfuzius nur im Detail: während der Kenner des Tao ausschließlich die Natur als moralische Instanz gelten lässt, lässt der Moralphilosoph auch der Kultur ihren Platz. Doch im Zweifel gilt auch für ihn stets das Primat der Natur. Auffällig oft hört man vom großen Meister Kung Fu Tse, dass in einer, wie ich heute sagen würde, ultradekadenten Gesellschaft, ein hoher sozialer Status eine Schande ist. Wer etwas geworden ist, wo die Scheiße oben schwimmt, der kann kein Mensch von Wert sein. Die Krise seiner Zeit spiegelt sich in der Biographie des Meisters natürlich wider, und auch er trauert, wie so mancher heute der Höhezeit der a...

Franz Josef Wetz: Illusion Menschenwürde

      Die Menschenwürde ist das traditionelle Hauptargument bei der Begründung der Menschenrechte. Die Würde ist nach Kant ein absoluter Wert, und wenn der Mensch eine angeborene und unveräußerliche Würde besitzt, dann kommt dem Menschen ein absoluter Wert zu, was unveräußerliche Menschenrechte nach sich zieht. Franz Josef Wetz untersucht in seinem Buch „Illusion Menschenwürde – Aufstieg und Fall eines Grundwerts“ die Entwicklungsgeschichte der Grundwerts Menschenwürde und deren historische und kulturelle Relevanz für die Begründung der Menschenrechte. Die ideengeschichtliche Herkunft der Menschenwürde kann als das Hauptargument für deren Negation fungieren, wenn festgestellt wird, dass die Idee der Menschenwürde aus einem ganz bestimmten kulturellen Kontext in einer Religions- oder Wertegemeinschaft entstanden ist, oder aber auf einen einzigen Denker zurückgeht und im Zeitalter des Relativismus als seine persönliche Meinung relativiert werden kann. Eben...

Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung

        2006 gekauft im Zustand tiefer Depression mit 23 und in der Absicht, das Hauptwerk des philosophischen Weltverneiners zu meiner Bibel zu machen. Die Depression klaute aber so viel Leseenergie, dass es zum Lesen des dicken Wälzers erstmal nicht kam, und am 18.10.2007 war Schopenhauer durch Kants Vorlage und Hegels Tor erledigt. Als Hegelianer bin ich über Schopenhauer hinausgegangen, ohne ihn (außer in Auszügen) zu lesen. Oktober 2021, jetzt lese ich "Die Welt als Wille und Vorstellung", weil warum nicht. Die ersten drei Bücher sind eine literarisch schöne aber philosophisch sinnlos in die Länge gezogene Hinführung zum vierten Buch, in dem es darum geht, was Schopenhauer der Welt eigentlich sagen will. Das Leben ist Leiden, weil es ein blinder unersättlicher Wille ist, der sich an Begierden haftet, und sobald sie befriedigt sind, immer neue findet. Die kurzen Momente vermeintlicher Zufriedenheit füllen sich schnell mit Langeweile. Darum ist das ...

Frank Bösch: Zeitenwende 1979

        Ingolf Ahlers, Professor an der Universität Hannover, und physiognomisch eine äußerst gelungene Mischung aus Al Pacino und Volker Finke, predigte schon 2005 in den Politik-Seminaren, dass nicht 1968 oder 1989, sondern 1979 das Jahr der Zeitenwende war. Insbesondere mit der islamischen Revolution im Iran entstand die multipolare Welt, in der wir heute leben, und die der militärisch-industrielle Komplex der USA nach dem Schema "Problem-Reaktion-Lösung" als vermeintliche Antwort auf 9/11 in eine unipolare verwandeln wollte. Bösch nimmt das Jahr 1979 gründlich unter die Lupe und zeigt, dass in diesem einen Jahr mehr wurzelt als uns heute bewusst ist. Der Neoliberalismus, die ökologische Bewegung, die Flüchtlingskrise und die Holocaust-Aufarbeitung begannen im Grunde 1979. Heute hat der Neoliberalismus längst im Scheitern die Nachfolge des Kommunismus angetreten, die Umweltbewegung ist so wichtig wie noch nie, die ewige Debatte über die Migration w...

Ian Kershaw: Höllensturz/Achterbahn

        Es war alles so richtig geil vor 1914. Die weiße Rasse beherrschte die anderen, von Rassisten rassistisch betrachteten Rassen, und das alte Europa war auf dem Höhepunkt seiner Macht. Schlafwandlerisch (aber das war ein anderer Historiker) schlitterten die europäischen Großmächte in einen selbstmörderischen Weltkrieg. Kein schneller Sieg, wie von beiden Seiten erwartet. Nach wenigen Monaten waren es schon über eine Million Tote. Und da griff die sunk cost fallacy: so viel geopfert, jetzt können wir den Krieg erst recht nicht beenden. Der Höllensturz ist die Historikergeschichte der Nuance, warum es nach dem ersten zu einem zweiten Weltkrieg kam, die Achterbahn ist die Geschichte Europas von 1950 bis heute. Es fällt auf, dass Kershaw etwas gegen die Franzosen hat. Besonders de Gaulle scheint er nicht zu mögen. Ansonsten erkennen Ältere die eigene Zeitgeschichte wieder, und es tut gut, über einst topaktuelle Ereignisse aus der Historikerperspekti...

Thomas Erikson: Alles Idioten!?

        Alle Menschen sind Idioten. Das wussten eigentlich alle eigentlich immer. Und jetzt hat es ein alter Schwede auch noch bewiesen. Doch nicht ganz darum geht es in diesem Buch. Erikson unterteilt die Menschen nach Temperamenten in vier Farbkategorien: sachorientiert sind die heißen Roten und die coolen Blauen, menschenorientiert sind die zuhörerischen Grünen und die nervigen Gelben. Die Blauen sind Langweiler, die Roten sind Tyrannen, die Gelben sind Narzissten, die Grünen sind pseudogutherzig-manipulative Dulder von emotionalem, narzisstischen und sexuellen Missbrauch anderer (!) für den Zweck der Harmonie zum Wohl der Familie. Nein, es ist natürlich anders. Die Blauen sind intelligente und ruhige Problemlöser, die Roten sind entschlossene und effiziente Anführer, die Gelben sind begeisternde Motivatoren, die Grünen sind empathische und selbstlose Mitmenschen. Und im Endeffekt: Alles Idioten!? Alter Schwede!

Lew Gumiljow: Ethnogenese und die Biosphäre der Erde

         Opus Magnum des großen russischen Geschichtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Durch (im historischen Materialismus nicht anders erlaubt) ausschließlich physikalische Ursachen geraten Menschenmassen in Bewegung, formen neue Ethinen, und jeder neue Ethnos leistet seinen Beitrag zur Weltgeschichte. Wie bei Spengler ist ein Ethnos, ein Volk, wie ein lebender Organismus mit Geburt, Höhezeit und Tod. Die Geburtsphase eines Volkes ist historisch selten nachvollziehbar, weil nicht dokumientiert. Dann kommt der schnelle Aufstieg, befeuert durch Passionarier (Individuen mit hohem für den Willen verfügbaren Energieüberschuss (freie Energie)). Die Passionarier bekämpfen sich in der Bürgerkriegsphase, die beruhigte Inertionsphase ist das Zeitalter hoher Kultur und später Zivilisation (Dekadenz und Ultradekadenz). Und dafür so lange forschen? Das ist doch intuitives Allgemeinwissen! Interessant ist Gumiljows moralische Metaphysik. Als gut betrachtet e...

David Christian: Big History

        Was ist Big History ? Das ist die historische, nicht logisch-ontologische Untersuchung von Etwas (1), Leben (2) und Bewusstsein (3) . Der Urknall (1) ist die historische Antwort auf die Frage, warum (besser: wie-so) etwas und nicht nichts ist. Wie das Leben (2) aus lebloser Materie entsteht, will die Erdgeschichte erklären. Wie das Leben seiner selbst bewusst, sprich menschlich wird (3), mit dem Ergebnis, das als Weltgeschichte bekannt ist, zeigt die Geschichte des Lebens. All das zusammen ist Big History , und das gleichnamige Buch ist eine Zusammenfassung der Fortschritte dieser interdisziplinären Disziplin aus der Hand ihres Gründers. Das, wofür Yuval Harari heute gefeiert wird, dachte sich David Christian vor ein paar Jahrzehnten aus. Wer die Weltgeschichte noch nie im Paradigma der Big History betrachtet hat, den lädt dieses Buch dazu ein. Wem das Paradigma geläufig ist, erfährt eine wiederholende Zusammenfassung des Wesentlichen.  

Thilo Sarrazin: Der Staat an seinen Grenzen

        Der Schreibstil verrät, dass der Hobbygenetiker und Finanzprofi auf Umwegen zum Nebenjob des Buchautors gekommen ist; er schreibt nicht viel besser als er sich in Talkshows ausdrückt. Ein zum Quatschen und Geschichtenerzählen zu intelligenter Mann. Erstaunlich ist immer wieder, wie schlecht informiert seine Kritiker sind, gerade im Vergleich zum vielkritisierten stolzen Sozialdemokraten Thilo Sarrazin. Er recherchiert, liest mögliche Einwände, noch bevor er seine Argumente im Buch unterbringt, informiert sich genau, nimmt Trendänderungen zur Kenntnis. Ein Meister des aktuellen Sachbuchs, der nur insofern kontrovers schreibt, wie die Themen selbst mit ihren Dilemmata Raum für Kontroversen schaffen. Wieder ein Buch von ihm, das diskutierbar und mit guten Argumenten auch kritisierbar ist; das einzige, was man darüber nicht sagen kann, ist, dass es nicht hilfreich sei.

Dick Swaab: Wir sind unser Gehirn

        Der niederländische Hirnforscher, den man anscheinend durchaus kennen sollte, lädt zu einem kurzweiligen Ausflug in die Tulpenwiese der neuesten Erkenntnisse seiner Disziplin. Mit viel Humor teilt er aus gegen Kreationisten und Gender-Gaga, gegen laxe Drogenpolitik und unwürdigen Umgang mit Tod und Sterbehilfe. Besonders ergreifend ist in seiner Traurigkeit das Kapitel über Demenz. Am Anfang verliert man das Gedächtnis, am Ende liegt man zusammengekrümmt in der Embryonalstellung und ist nur noch vegetativ lebensfähig. Sexualität und Geisteskrankheit, Gedächtnis und Glaube, Depression und Fettsucht: alles hat seine Ursachen im Gehirn und kommt, nur Geduld, früher oder später zur Sprache. Ein ideales Buch für Neurolaien, um das Thema aufzufrischen.