Lew Gumiljow: Ethnogenese und die Biosphäre der Erde

  

 

 

 Opus Magnum des großen russischen Geschichtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Durch (im historischen Materialismus nicht anders erlaubt) ausschließlich physikalische Ursachen geraten Menschenmassen in Bewegung, formen neue Ethinen, und jeder neue Ethnos leistet seinen Beitrag zur Weltgeschichte. Wie bei Spengler ist ein Ethnos, ein Volk, wie ein lebender Organismus mit Geburt, Höhezeit und Tod.

Die Geburtsphase eines Volkes ist historisch selten nachvollziehbar, weil nicht dokumientiert. Dann kommt der schnelle Aufstieg, befeuert durch Passionarier (Individuen mit hohem für den Willen verfügbaren Energieüberschuss (freie Energie)). Die Passionarier bekämpfen sich in der Bürgerkriegsphase, die beruhigte Inertionsphase ist das Zeitalter hoher Kultur und später Zivilisation (Dekadenz und Ultradekadenz). Und dafür so lange forschen? Das ist doch intuitives Allgemeinwissen!

Interessant ist Gumiljows moralische Metaphysik. Als gut betrachtet er die Lebensbejahung, als böse die Lebensverneinung. Gut ist das Leben mit allem, was dazugehört: auch Gewalt, Krieg und Tod. Und, konsequent gedacht, auch der Freitod als eigener Willensentschluss. Bildlich vor Augen hat man sogleich die großen Helden der Geschichte, die Mongolen Dschingis Khans, die gewaltigen und gewalttätigen Römer, die neuzeitlichen europäischen Welteroberer. Letztlich auch die Naturwissenschaftler und Technokraten, also die großen Religiösen und die großen Atheisten.

Böse ist das Nichts, wie in Goethes Faust. Der Wille zum Nichts, der Antinatalismus, die Enthaltung vom Töten und die Verneinung des Suizids (weil darin auch der Wille zum Leben ausgedrückt wird, wie bei Schopenhauer). Assoziativ fällt ein: passives Dasitzen, parasitäres Sichmitschleppenlassen, dabei alles beschimpfend und verneinend; Askese, aber auch zerstörerische Orgien, Hass auf das Leben, die Welt, die Materie, die Menschen, Selbsthass, Tätowierungen, Piercings, blau gefärbtes Haar, Body Positivity. Und das alles sieht Gumiljow nicht erst bei den ultradekadenten letzten Menschen des untergehenden Westens, sondern quer durch die Weltgeschichte bei Mahayana-Buddhisten, Manichäern, Katharern und Anhängern Tolstois, die Gewalt nicht mit Gegengewalt beantworten wollten.

Das Gute und das Böse: das Leben und sein Parasit. Ein fruchtbarer Gedanke, der gerade im Lichte der anthropologischen Trias noch ausarbeitungsfähig ist. Wenn ich den Antinatalismus beim Abschluss dieses Denkprozesses als Irrweg, als scheingut, aber eigentlich moralisch böse betrachten muss, dann werde ich die Größe haben, zu sagen: "Ich habe mich, was den moralischen Wert meinen Lieblings-Ismus angeht, kolossal geirrt. Der Antinatalismus ist gar nicht edel und erhaben, sondern ontologisch böse". Es wird ein heißer Philosophenherbst.

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