Rutger Bregman: Im Grunde Gut
Dieses Buch sah ich immer wieder in den Buchhandlungen liegen, und überging es bewusst. Eigentlich war mir schon klar, was drin stehen würde. Nur war ich dafür noch nicht bereit. Insbesondere "Mensch werden" von Michael Tomasello öffnete mir die Tür zu einer Erkenntnis, deren Zeit längst reif war: Der Mensch ist gut.
Warum wollen wir dennoch glauben, dass der Mensch schlecht ist? Aus Selbstschutz. Aus Ressentiment. Und um eine kognitive Dissonanz zu überwinden. Aus Selbstschutz an das Böse im Menschen zu glauben, ist einfach erklärt: so fallen die eigenen Fehler weniger auf. Die eigenen Missetaten werden als allzumenschlich entschuldigt. Das Ressentiment geht schon tiefer: jemandem ist es im Leben schlecht ergangen, und er hält verbittert an der Ideologie fest, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Und dann wird er noch Vater und bringt es seinen Kindern bei, die mit diesem Glauben in die Welt hinaus gehen und derart konditioniert unbewusst nach schlechten Erfahrungen suchen.
Eine kognitive Dissonanz entsteht, wenn jemand sehr schlechte Erfahrungen mit seinen Mitmenschen macht: Misshandlung in der Familie, Diskriminierung in der Schule usw., dann aber feststellt, dass die meisten Menschen sich in den meisten Situationen durchaus freundlich verhalten. Warum aber nicht zu mir? Was stimmt mit mir nicht? Diese Fragen sind quälend, also errichtet man ein psychologisches Schutzschild aus Zynismus. Überall will man böse oder zumindest egoistische Motive sehen. Gute Erfahrungen werden absichtlich missinterpretiert.
Ich wollte bis vor kurzem den Glauben an homo homini lupus nicht aufgeben, selbst als alle emotionalen Schutzschilder durch immer stärkere Persönlichkeit obsolet geworden waren, selbst als alle Ressentiments aufgearbeitet waren und alle schlechten Erfahrungen rational ergründet. Dennoch erschien der Glaube daran, dass die meisten Menschen böse seien, angesichts des soziokulturellen Verfalls intuitiv richtig zu sein. Doch soziale Zyklen kommen und gehen, der Mensch aber bleibt. Vom Höhepunkt der abendländischen Hochkultur bis zur heutigen ultradekadenten Gesellschaft ist nur ein Bruchteil der historischen Zeit vergangen, und die historische Zeit ist wiederum nur ein Bruchteil in der Geschichte unserer Spezies.
Bregman dekonstruiert moderne
Mythen, die uns "beweisen" wollen, wie der Mensch angeblich ist. Die
paradigmatischen sozialpsychologischen Experimente der 1960-er entlarvt
er als Fälschungen. Selbst das linkspopulistische Argument, die
Zivilisation habe uns verdorben, lässt er nur eingeschränkt gelten.
Vielmehr sieht er im schlechten Menschenbild eine selbsterfüllende
Prophezeihung.
Warum tun Menschen dann Böses? Oft aus guten Gründen. Manchmal begeht einer eine einzelne, gar nicht so dramatische schlechte Tat, und lässt dann weitere folgen, etwa in Form von Leugnung, Verlogenheit, Verdrehung und absichtlichem Missverstehen, nur um sein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Dabei wäre es so einfach, einfach um Verzeihung zu bitten, denn die Menschen sind nicht nur fast immer bereit, zu verzeihen, sondern sie verzeihen sogar gern. Es tut anderen sogar weh, dich leiden zu sehen, auch wenn du der Meinung bist, du seist von schadenfrohen Sadisten umgeben. Der Mensch ist fast immer freundlich, hilfsbereit, vergibt allzu gern, opfert sich sogar für andere auf. Wir sind eine hypersoziale Spezies.
Ich habe mich immer auf Ereignisse wie den Holocaust und andere Völkermorde konzentriert, auf Taten sadistischer Psychopathen, auf Kindesmissbrauch und Machtexzesse, auf die Schlachtfelder und die Konzentrationslager. Daher hatte ich mein Menschenbild. Es wurde Zeit, dieses Bild zu revidieren. Dennoch ist offensichtlich, dass sich das Böse in der menschlichen Natur nicht leugnen lässt. Es ist da, und es zerstört Millionen von Leben. Doch bekämpfen wir es wirklich, indem wir es immer wieder beschwören?
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