Rolf Schäfer, Wolfgang Weimer: Man will leben und muss sterben – Man will tot sein und muss leben
Auf dieses Buch war ich schon länger neugierig, habe es nun gelesen und nicht bereut. Die Autoren legen sofort los, und der Leser erwartet einen Niveau- , Dichte- oder Spannungsabfall, aber die am Anfang gelegte hohe Latte kann locker gehalten werden. Ja es wird sogar noch spannender, sodass es nicht mehr möglich war, wie ursprünglich gedacht, nach dem ersten Drittel aufzuhören und später auf das Buch zurückzukommen. Der existentielle Ernst und die angemessene Herangehensweise der Autoren haben keine Pause erlaubt.
Wer gleich mit der Pointe anfängt, muss sich sicher sein, dass er auf den folgenden 500 Seiten den Leser nicht langweilen wird. Die Pointe ist, dass seitdem wir nicht mehr in Jäger-und-Sammler-Gruppen leben, es gefühlt mit der Welt (insbesondere mit der menschlichen Gesellschaft) bergab geht. Ideal ist für uns, in Gruppen mit knapp über 100 Leuten zu leben, wo wir alle persönlich kennen und uns gegenseitig ohne abstarkte Hintergedanken vertrauen können. Seit das nicht mehr gegeben ist, verzweifeln wir an sozialen Lebensbedingungen in großen, insbesondere urbanen Gesellschaften.
Dass früher alles besser war, ist wahr, aber kaum einer weiß, welches Früher die Intuition meint. Und dieses Früher war offenbar nicht später als die metaphorische Vertreibung aus dem Garten Eden oder eben das Ende der prähistorschen Zeit und der Beginn der Menschheitsgeschichte. Als wir Menschen noch keine Menschheit waren, da ging es uns gut. Und seitdem warten wir bis an die 10000 Jahre auf den Weltuntergang oder ein neues Goldenes Zeitalter oder die Erlösung durch göttliches Erbarmen. Der Pessimismus entstand also durch die Zivilisation.
Und der Optimismus? Es ist wohl so, dass bei Lebensbedigungen, für die wir geschaffen waren, kein Optimismus nötig war. Doch seit wir die artgerechte Haltung unserer eigenen Art aufgegeben haben, brauchen wir einen Trost, um in der dauerhaften Verbannung leben zu können. Da wir uns den eigenen Tod nicht vorstellen können, ist ein Paradies nach diesem Leben ein nachvollziehbares Desiderat. Außerdem eignet sich der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele optimal für eine moralische Besetzung: die Guten (die, die so leben, wie wir Menschen eigentlich leben sollten) kommen in den Himmel, die Bösen (die sich skrupellos und berechnend in der Anonymität der Massengesellschaft eingerichtet haben) in die Hölle.
Bis zur Neuzeit fällt auf, dass vor
allem die Religionen optimistisch und die Kulturen pessimistisch waren:
sprach aus den Menschen die Hoffnung, malte sie in allen Weltreligionen
transzendente Luftschlösser, sprach die Erfahrung, zeigte sie die
Erbärmlichkeit der conditio humana in aller Deutlichkeit. Doch in
der Regel brauchte die Phantasie die Erfahrung nicht zu fürchten. Das
änderte sich im 18. Jahrhundert, als die jahrtausendealte
Agrargesellschaft zunehmend von der noch individualistischeren
Industriegesellschaft verdrängt wurde. Zuerst verlief alles im Rahmen
der herrschenden Religion: der warme, väterliche Gott der Theisten wurde
zum kühlen abwesenden Uhrmacher der Deisten, doch blieb
nichtsdestotrotz der allmächtige, allwissende und allgütige Gott der
Bibel. Nur mussten seine Apologeten halt beweisen, dass er diese Welt
als die beste aller möglichen erschaffen hatte.
Leibniz trat den Beweis an, doch auf sein systemisches, mathematisches, im Grunde der traditionellen Scholastik entsprungenes Weltbild antwortete Voltaire mit anekdotischer, moderner
Erfahrung. Dem Weltganzen stellte er das Individuum entgegen, und
fragte von dessen Perspektive, ob diese Welt die beste aller möglichen
sei. Ein klassischer Paradigmenwechsel, den Hegel und Marx verweigerten,
wobei sie den theistisch-transzendenten Ursprung des Optimismus
verließen: bei Hegel ist Gott nicht mehr transzendent, sondern der
immanente Weltgeist, bei Marx ist das Subjekt der Geschichte nicht
einmal Geist, sondern, wie in Darwins Evolutionslehre, die Natur.
Wer den Paradigmenwechsel vom
Allgemeinen zum Einzelnen als gegeben hinnahm, war Schopenhauer. Er
setzte das Allgemeine sogar zum Einzelnen herab: für ihn war es in allen
Wesen nur ein und derselbe Wille, der das Leben bejahte, während der
vernünftig reflektierende Pessimist das Leben verneinen musste. Was
Schopenhauer gelten ließ, war die christliche Moral, die ihm auch als
Rechtfertigung der Lebensverneinung diente: Leben bedeutet, Leben zu
vernichten; wer den Lebenswillen aufgibt, kann erst wirklich moralisch
sein. Nietzsche spürte, dass es Schopenhauer nicht wirklich um die Moral
ging, die Lebensverneinung ergab sich bereits aus der Tragik des
einzelnen Lebens. Also verwarf er die traditionelle Moral als
heuchlerisch und fragte modern nach den lebensphilosophischen Konsequenzen der Tragödie des Individuums.
Nietzsches kontraintuitive Antwort
war, das Leben als Tragödie zu bejahen. Lebensbejahung vom Individuum
ausgehend wurde in der Existenzphilosophie seit Kierkegaard und
insbesondere im Existentialismus des 20. Jahrhunderts populär.
Kollektive Lebensbejahung in den idealistischen Utopien zeigte aber
katastrophale Ergebnisse (Diktaturen, mörderische Ideologien). Die
Lebensverneinung hörte mit Schopenhauer nicht auf, sondern kulminierte
individuell im Nihilismus Ciorans und kollektiv im Antinatalismus.
Ohne das Herzstück, das 8. Kapitel, wäre das Buch eine aufschlussreiche Nachzeichnung der Kontroverse im Untertitel. Es wäre auch nicht unmittelbar aufgefallen, dass der Optimismus jedesmal hinterfragt wird, während pessimistischen Positionen viel Entfaltungs- und Erklärungsraum gegeben wird. Doch hier neigt sich die Waagschale endgültig zugunsten des Pessimismus, der sonnigstenfalls nur noch abgemildert wird. Der Pessimismus verläßt die Arena der Lebensphilosophien als der klare Sieger.
Selbst die Frage, ob das figurative Glas halbvoll oder halbleer ist, setzt schon ein Anspruchsdenken voraus: viele Gläser sind leer und manche haben gar kein Glas. Die Argumente für den Optimismus und den Pessimismus sind keineswegs gleichwertig; nur aus Perspektiven, die die persönliche Erfahrung ausblenden, kann der Optimismus widerspruchsfrei behauptet werden. Doch gerade die Verlorenheit, Verlassenheit und Trostlosigkeit des Einzelnen macht den Optimismus nötig. Das ist die Dialektik von Optimismus und Pessimismus: die Welt ist für das menschliche Individuum so schlecht, dass der Mensch nur als Optimist in ihr leben kann, ohne zu verzweifeln, doch kaum fängt er an, infolge seines Optimismus etwas zu hoffen oder gar zu erwarten, holt ihn der Pessimismus wieder ein.
Geht es einem Individuum mal besser, richtet es sich im Pessimismus, der ihm persönlich nicht besonders wehtut, gemütlich ein. Daraus entsteht ein bescheidener Optimismus, der so lange gehalten werden kann, bis eine Katastrophe ihn zunichte macht. Wer aber alles verloren hat, hat nichts mehr zu verlieren, und wer nicht mehr hofft, kann nicht mehr enttäuscht werden. Und so kann Glück und Freude unter widrigsten Lebensbedingungen erlebt werden, trotz allem.
Welche Lebenseinstellung ist letztlich zu empfehlen? Auf der Bewusstseinsebene Null, etwa als Pilz oder Baum, ist jedes Lebewesen zwangsläufig ein Optimist. Auf der unmittelbaren hedonischen Ebene von Lust und Schmerz wird der naive Optimismus immer wieder enttäuscht und endet in der Depression. Auf der reflexiven Bewusstseinsebene bewirken die Lebenseinstellungen selbst, wie das Leben erfahren wird. Auf der Ebene der Reflexion der Reflexion scheint der Pessimismus der Sieger zu sein (das geht aus der Analyse der Science-Fiction-Literatur hervor). Erst auf einer Bewusstseinsebene, die uns als Menschen nicht mehr zugänglich ist, könnte der Optimismus wieder angebracht sein, aber das wären Bewusstseinszustände, die wir Menschen eben nicht verstehen. Alles unter und über der conditio humana sonnt sich im Optimismus, während im Bereich des Menschlichen der Optimismus nicht mehr als eine bescheidene Realtivierung des grundsätzlich angebrachten Pessimismus sein kann.
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