Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit

 

 

 

 

  Wie eine Bulldogge hat sich Putins Regime in die Ukraine verbissen. Im Wahn und Blutrausch lässt es selbst nach schweren Niederlagen nicht los. Diese militärische Spezialoperation ist aus der Sicht der Vernunft nichts als Selbstzerstörung, und doch wird sie umso verbissener geführt, je aussichtsloser sie wird. Häftlinge werden an die Front geschickt, es wird geplündert, gemordet und gefoltert. Zwei Dinge bleiben aber Tabu: eine Generalmobilmachung in Russland anzuordnen und die Spezialoperation einen Krieg zu nennen.

Putins Regime ist seinem Volk verpflichtet, es kann nicht einfach tun und lassen, wozu Putin Lust hat. Die ursprüngliche Vereinbarung war: das Volk hält sich fern von Politik und bekommt dafür Wohlstand und Sicherheit. Die ungeschriebene Vereinbarung wurde von Russland als dem Rechtsnachfolger der UdSSR stillschweigend übernommen, und ist die Ursache für den Wahnsinn dieses Krieges. Die UdSSR war nämlich eine "kommunistische Weltbank des Zorns", die 1991 pleite ging. Russland übernahm die faulen Kredite dieser Zornbank und übernahm sich damit: es war nicht in der gleichen Verhandlungsposition gegenüber dem Westen wie die Sowjetunion vorher, und wollte doch auf Augenhöhe eine neue globale Sicherheitsstruktur aushandeln. Doch die USA haben die Weltordnung seit 1991 eigenmächtig diktiert, und die russische Weltbank des Zorns begann sich wieder zu füllen.

Putins Kampf gegen die Unwerte des dekadenten Westens ist nichts weiter als eine Anlagemöglichkeit für die Frustrierten in Europa, die Rechtspopulisten aller Länder des Westens legen dort seit Jahren ihren Zorn an. Putins Regime ist selbst nicht weniger dekadent und führt keinen Krieg um moralische Werte. Es führt aber einen psychopolitischen Krieg, wie ihn Sloterdijk in "Zorn und Zeit" beschreibt. Der grundlegende Begriff für Sloterdijks Verständnis der Psychodynamik des Zorns ist der Thymos (Zorn, Stolz), der einen Gegenpol zum Eros (Lust, Gier) in der menschlichen Psyche bildet.

Verschiedene Völker legen ihren Zorn unterschiedlich an. Die Albaner machten Mitte der 1990-er Krawall, weil ein durchaus vorhersehbarer Zusammenbruch eines Ponzi-Schemas viele Anleger finanziell ruinierte bzw. das Versprechen eines Lottospiels, das nur Sieger kennt, nicht einlöste. Als die russische AG MMM sich auflöste, machten sich die Russen über ihre gierigen Landsleute eher lustig. Eros und Thymos sind auf unterschiedliche Arten verstrickt.

Der Zorn ist eine irrationale psychische Kraft. Für Putins Regime gilt: Russland muss den Krieg in der Ukraine gewinnen, es gibt keine andere Option. Da der Westen und die russische Opposition in den ersten Wochen der Eskalation zu zögerlich waren, und das Regime nicht gestürzt haben, stieg fortan die Gefahr eines Atomkriegs, der für die Anleger in die russische Weltbank des Zorns schon unabhängig von seinem Ausgang ein Sieg wäre: der Zorn muss sich entladen. Die Währung des Zorns ist nicht Geld und Lust, sondern Leid und Tod.

Unrecht hatten die, die einen Rückzug Russlands nach dem Scheitern des Blitzkriegs vorhersagten: ja, die Ukraine kämpft um ihre Existenz, aber auch Russland kämpft einen existentiellen Kampf, den Kampf der Zornigen gegen die Gierigen. Davon, diesen Kampf instrumentalisieren zu können, hängt die Überlebensfähigkeit von Putins Regime ab.

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