Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft
Im 19. Jahrhundert hatten die Menschen
panische Angst, lebendig begraben zu werden. Es gab Krankheiten oder
Zustände, bei denen Ärzte die regungslos Daliegenden für tot erklärten,
und dann wachten sie in ihrern Gräbern unter zwei Metern Erdreich auf.
Deshalb wurden in die Särge Vorrichtungen gebaut, die die Außenwelt da
oben darüber informieren sollten, falls jemand ausversehen lebendig
begraben werden würde, und in seinem Sarg wieder aufgewacht wäre.
Das ist in der Tat eine beängstigende
Vorstellung. Weniger schrecklich hört sich das Gedankenexperiment mit
Hirnen im Tank an. Doch beiden liegt dieselbe Apperzeption zugrunde,
nämlich unter der Bedingung der Unmöglichkeit, die Welt außerhalb des
eigenen Kopfes realitätsgemäß wahrzunehmen. Was wir sehen, sind nach
Kant nur Erscheinungen. Die Dinge an sich sind uns genauso fremd wie die
Tasse Tee einem Hirn im Tank. Doch der Besitzer des Hirns im Tank
bewegt sich im Raum, hält ein Buch in der Hand und trinkt den Tee, den
er riechen und schmecken kann, die Tasse ist heiß, er kann es fühlen.
Und schließlich kann er doch die Tasse und die Kritik der reinen
Vernunft direkt vor sich auf dem Tisch sehen. Nein, sagt Kant, alles nur
Erscheinungen. Man kann förmlich den Behälter mit dem verzweifelten
Hirn im Tank auf den Boden fallen und zerplatzen hören.
Die transzendentale Ästhetik ist die Lehre von den Anschauungen, die uns durch die Form des äußeren Sinns, den Raum, und die Form des inneren Sinns, die Zeit, gegeben werden. Das kann man sich alles einreden, wenn man lebendig begraben ist und keine Rettung kommt. Die Luft wird knapp, und schon fallen die Gottesbeweise einer nach dem anderen und die Gedanken verstricken sich in tödliche Antinomien: hat die Welt einen Anfang in Raum und Zeit oder nicht? Wenn ja, wie sind dann Raum und Zeit bloß innere Formen der Anschauung? Wenn nein, kann man unendlich auf Rettung oder Tod warten, und der Zeitpunkt des Todes oder der Rettung wird zur unerreichbaren Asymptote.
Die transzendentale Logik systematisiert die zwölf möglichen Urteilsformen, Kategorien genannt, und die transzendentale Dialektik präsentiert die Bedingungen der Unmöglichkeit, Gott, Freiheit und eine unsterbliche Seele als Substanz in einer nominalistischen Weltanschauung widerspruchsfrei zu denken. Und letzten Endes geht es um die Glückseligkeit: der Zweck der theoretischen Transzendentalphilosophie war es am Ende nur, zu zeigen, dass ein bestimmtes Ding an sich doch noch Gegenstand möglicher Erkenntnis sein kann, und zwar der eigene freie Wille.
Zurück zur Realität, die Kants lebendig begrabenes Hirn im Tank nicht direkt wahrnehmen kann: mit der Realität ist nicht das wahrhaft Reale, sondern das Irrealste gemeint, die Mannigfaltigkeit äußerer Dinge. Der Baum da ist an sich kein Baum, aber ich stelle ihn mir als Baum vor, und kann sogar an seinen Jahresringen die Klimageschichte meines Wohnortes studieren. Die Vorstellungen reichen vollständig aus, um die unsichtbare Realität zu manipulieren, wie ein Zauberer Schatten manipuliert. Wir werden niemals wissen, was die Dinge an sich sind, aber wenn wir die Natur durch Experimente prüfen und die Forschungsergebnisse auf Übereinstimmungen mit mathematischen Formeln und physikalischen Faustregeln untersuchen (das Denken denken), werden wir sie besser im Griff haben als die klassischen Metaphysiker mit ihren ontologischen Spekulationen.
Vor Kant, so die Meinung von Kant, gab es keine richtige
Philosophie. Und er hat Recht: es gab keine Wissenschaftsphilosophie.
Kant ist der Wegbereiter der Zweiten Liga der Philosophen, die die
Hypothesen der Naturwissenschaft auf ihre innere Konsistenz und ihre
Vereinbarkeit miteinander überprüfen. Über die wahren Inhalte der
Philosophie wie Gott und die Seele können wir nur spekulieren, aber nach
Kant nicht mehr philosophieren. Damit ist Kants Philosophie letztlich
nur eine Abzweigung in die wissenschaftsphilosophische Richtung, aber
keine kopernikanische Wende oder sonstige Revolution der Denkungsart.
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