Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit

 

 

 Im Herbst 2018 parallel zum "Untergang des Abendlandes" gelesen, erwies sich dieser 1500-seitige Essay als der größere Genuss. Ein spannender Ritt durch die Geschichte der Neuzeit, der letztlich auch den Beginn der Neuzeit richtig ansetzt: es ist die Zeit des Schwarzen Todes, Mitte des 14. Jahrhunderts. Das ist der eigentliche Beginn der westlichen, atheistisch-szientistischen Zivilisation, doch Friedell wollte vor 90 Jahren natürlich auf etwas anderes hinaus.

Die Neuzeit wird auf spannende Weise pathologisiert, und so erscheint die Frührenaissance als Inkubationszeit einer Krankheit. Diesen Gedanken nimmt Peter Sloterdijk im Buch "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" wieder auf, aber unter einem anderen Aspekt. Nicht weil er auch Wiener Jude ist, erwähnt Friedell einen gewissen Otto Weininger, sondern weil Weninger eben kulturgeschichtlich bedeutsam ist und erst durch die Nazizeit seiner Prominenz beraubt wurde. Die Einlässe zu Weininger sind durchaus fair, was dieses ohnehin sympathische Werk noch sympathischer macht.

Spenglers "Untergang des Abendlandes" wird gewürdigt und teilweise übertroffen; im Vergleich zum kulturgeschichtlichen Maler Friedell wirkt Spengler im Nachhinein wie ein autistischer Savant, der sich alles gemerkt hat, alles aufzählt, aber nichts erzählt. Das mag am anderen Anspruch des Werkes liegen: wer appellieren, aufrütteln will, darf oder kann nicht zu interessant schreiben, schließlich sollen wir durch das Pamphlet nicht unseren geistigen Horizont erweitern, sondern zu politischen Taten bewegt werden. Das ist beim gemütlichen Wiener anders. Dass mit den Geistern, die Spengler keineswegs rief, aber durchaus antizipierte, es mit der Wiener Gemütlichkeit vorbei war, ist eine traurige Note, die diese beiden Werke durch Friedells Todesumstände verbindet.

 

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