Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers
Herz! – Ach, die Leiden des jungen Jungen. Zerreißend! Herz, Gott, All! – Genug. Genug der Schwärmerei, Wilhelm, fangen wir an mit der Analyse. Gleich nachdem ich den Roman zuendelas, ergriff mich voller Mitleid mit dem Dahingeschiedenen der Wunsch, ein Handbuch für angehende Suizideure zu verfassen: Besser sterben! Nein, Sui caedere! Nein, zu prätentiös, vielleicht, Was man bei der Begehung eines Freitods unbegingt bedenken muss, denn es geht ja nicht an, dass ein zu diesem Entschlusse Entschlossener sageundschreibe zwölf Stunden röchelt, bis ihm den Geist entflieht!
Ein intelligenter und sensibler junger Mann scheitert an der Welt und flieht in seine bereits überwundene Verliebtheit zurück, um am Liebesdrama seines lang ersehnten Todes zu sterben. Er steigert die Verliebtheit zum Wahn, und den tragischen Ausgang kann er nicht verfehlen, da die Geliebte vergeben ist.
Das Genie Goethes kannte ich bisher so noch nicht, ich beendete den
Werther vor 20 Minuten. Der Faust und anderes Reifwerk war mir seit
meiner Jugend bekannt, aber um den Werther machte ich stets einen Bogen.
Selbst der sozialpsychologisch durchaus interessante Werther-Effekt
weckte nicht die Neugier auf das Werk. Immerhin haben sich um die 300
junge Männer durch die Lektüre Werthers oder in einem Zusammenhang damit
zum Suizid verführen lassen. Und bis auf den schrecklichen Tod, der
durch schlechte Handhabung der Feuerwaffen verschuldet war, ist das Werk
ein Loblied auf den Freitod.
Ich kenne die Verliebtheit Werthers. Ich kenne die Todessehnsucht und
den Lebensüberdruss aus meiner Jugend. Und ich kenne auch die
romantische Flucht in den Liebeswahn. Romantische Liebe ist die
ultimative Weltflucht.
Universum! Du lässt uns uns in Unerreichbare verlieben und erwartest von uns Vernunft. Gottheit, du quälst uns mit diesem Geschenke, dem flammenden Herzen, das nur unendlich lieben kann, in einer endlichen, zellenhaften, grauen Welt! – Im Ernst: Verzweifelt, steigern wir uns ins Erhabene hinein, um nicht zugeben zu können, dass wir an Banalem gescheitert sind.
Doch Gemach! Albert, der treue und weltlich erfolgreiche husband, d. h. Besitzer und Halter von Werthers Lotte, verlor beim Thema Suizid stets die Fassung. Feige sei es, sich das Leben zu nehmen, und unvernünftig. Warum hier, wo die Vernunft sonst im Leben regiert, selbst in der Liebe, versagt sie? Keine Spur von Eifersucht, wo doch seine Frau den Liebesromantiker nicht bloß als angenehme Unterhaltung duldet, sondern einen Seelenverwandten in ihm sieht? Aber beim Thema Freitod, da verliert er die Fassung. – Und ach, wie wird Herz mir, wie will die Glut der Leidenschaft den Gedanken verschlingen, den ich, bevor sie das tut, noch schnell digitalisiere: Ist das Denkverbot der meisten Menschen zum Thema Freitod etwa kein unbewusster Ausdruck einer heimlichen Todessehnsucht?
Die wilden Romantiker sind nur die, die diese Wahrheit auszusprechen wagen: Die Welt ist nicht genug! – James, du Abenteurer, du hast es verstanden. Wenn du nicht die Welt rettest, lebst du nicht. Nota bene: James Bond ist seit 2006 ein Albert geworden, davor war er ein Werther. Nur eben kein Liebes-, sondern ein Abenteuerromantiker.
Luft! – Liebe! – Von Luft und Liebe leben,
mehr bedarfs nicht. Und von all dem Rest wird die Seele krank. Darum
sucht sie, sich von all dieser Last zu befreien, von der Last der Welt,
ihrer Ödnis, ihrer Alltäglichkeit, ihrer Unangemessenheit gegenüber der
Unendlichkeit des Herzens.
Wenn du der Welt entstirbst, stirbt sie dir zuerst. Enttäuscht und
verzweifelt, das positiv Gegebene mit den unendlichen Gaben der
kindlichen Vorstellungen vergleichend, sucht das Herz einen Gipfel, um
sich in den Abgrund hinunterzustürzen. Nichts macht so todesmutig wie
romantische Liebe. Zuerst war der Todeswunsch, dann die Liebesromantik.
Und wäre Lotte ungebunden gewesen, hätte Werther sie in kürzester Zeit
mit einer anderen betrogen.
Doch dieses Meer von Tränen, diese Sucht nach der Geliebten? Was das ist –
ganz einfach, das ist die Sucht deiner Psyche nach dem Leben, das ist
die Angst vor dem Tod, die sich an das intensivste Leben, an die Liebe
klammert. Deine Psyche will deinen Freitod verhindern. Und je fester du
die Entscheidung, dir das Leben zu nehmen, gefasst hast, umso stärker
erlebst du den Liebeswahn. – Und diese Erleichterung, wenn
es keinen Ausweg mehr gibt. Wenn es scheinbar die unmögliche Liebe ist,
die ihn aus dem Leben drängt. Nein, die Ruhe in der Verzweiflung ist
jedesmal das Gefühl, für den Suizid entschuldigt zu sein – du hast ja so überschwänglich geliebt, du konntest nicht anders!
Ein herrliches Buch – und herrlich, es mir bis zu einem Alter von Ende 38 aufgespart zu haben. Freunde! – Erhabener Augustus, nachdenklicher Hamlet, – ihr habt mich dazu gebracht, den Werther endlich zu lesen, und ich freue mich über die anstehende Diskussion. – Geil!
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