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Es werden Posts vom September, 2020 angezeigt.

Kiite Aurele: Ultrafaschismus

     Erstveröffentlichung 1899 in Arenkord, wo liegt das? Der Titel soll ironisch gemeint sein, aber welche Art von Ironie ist gemeint? Jedenfalls legt der Autor gleich los: es gibt angeblich 16 Arten von Menschen, er nennt sie Piedestalle. Sie unterscheiden sich nach ihrem absoluten Wert. Ab dem 10. Piedestall weiter runter sind die Menschen seelenlos, höher als den 5. Piedestall trifft man sehr selten; eine Frau aus höheren Gefilden nennt der Autor nicht mehr Frau, sondern durchgehend und konsequent Elfe, Fee oder Engel. Wohl eher Fantasy als extrem radikaler Faschismus? Oder extrem radikal faschistische Fantasy? Bei aller Lächerlichkeit bzw. Ungewöhnlichkeit der Grundannahmen birgt das Buch ein enormes Erklärungspotential. Phänomene wie Narzissmus, Soziopathie, weibliche Selbstzerstörung und Kakophilie bei der Partnerwahl werden erschöpfend erklärt. Es passt zu genau, als würde der Programmierer der Matrix uns Armen, die wir in dieser Matrix leben, alles genau erklären...

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt

      Die am 29. Februar 2020 zusammen mit Mischa Meiers Geschichte der Völkerwanderung käuflich erworbene Geschichte der Renaissance des Historikers Bernd Roeck zeigt als erzählerisches Nachschlagewerk das, was Peter Sloterdijk im philosophischen Thriller "Die Schrecklichen Kinder der Neuzeit" thematisierte: das, was im Westen mit der Renaissance begann, war ein furchtloser Ritt des Ichs auf wilden Rössern des Ego. Nochmal sei an die monumentale Kulturgeschichte der Neuzeit von Egon Friedell erinnert; dieser aber, unter Einfluss seines Zeitgenossen Freud, behandelte die Neuzeit nicht als kulturelles Phänomen, sondern als psychiatrische Diagnose. Roeck skizziert die Anfänge des neugierig-verspielten Geistes der Renaissance in den philoshischen Gedanken- und rhetorischen Wortspielereien der Antike, zeichnet die Wurzeln der Neuzeit im Mittelalter, und los geht die Fahrt durch ein welthistorisches Neuland. Immer wieder blickt er über die Ränder Europas, wo mi...

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit

      Im Herbst 2018 parallel zum "Untergang des Abendlandes" gelesen, erwies sich dieser 1500-seitige Essay als der größere Genuss. Ein spannender Ritt durch die Geschichte der Neuzeit, der letztlich auch den Beginn der Neuzeit richtig ansetzt: es ist die Zeit des Schwarzen Todes, Mitte des 14. Jahrhunderts. Das ist der eigentliche Beginn der westlichen, atheistisch-szientistischen Zivilisation, doch Friedell wollte vor 90 Jahren natürlich auf etwas anderes hinaus. Die Neuzeit wird auf spannende Weise pathologisiert, und so erscheint die Frührenaissance als Inkubationszeit einer Krankheit. Diesen Gedanken nimmt Peter Sloterdijk im Buch "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" wieder auf, aber unter einem anderen Aspekt. Nicht weil er auch Wiener Jude ist, erwähnt Friedell einen gewissen Otto Weininger, sondern weil Weninger eben kulturgeschichtlich bedeutsam ist und erst durch die Nazizeit seiner Prominenz beraubt wurde. Die Einlässe zu Weininger sind ...

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes

      Über dieses Buch war ich erst geteilter Meinung, und zwar teilte sich die Meinung in der Mitte: der erste Teil gut, der zweite schlecht. Doch wenn man sich durch den Ideologiegehalt eines für seine Zeit aktuellen Werks stören lässt, tut man dem Werk unrecht, schließlich schreibt der Autor eben für seine Zeit und will nicht erst Menschen, die in 100 Jahren leben werden, etwas sagen. Nehmen wir zur exakten Genausierung des Gesagten ein frisches Werk: auch Steven Pinkers großartig optimistisches Buch "Aufklärung jetzt" ist dann Mist, denn es strotzt vor Ideologie und ist alles andere als objektiv. An sich sind die Analysen des Kulturmenschen und Kunstkenners Spengler durchaus zutreffend und heute noch aktueller als zur Zeit der Niederschrift, als sie schon hochbrisant waren. Es bleibt ein Klassiker, an dem ein Nichtidiot nicht vorbeigehen kann, ein Fachidiot schon, d. h. nicht alle intelligenten Menschen werden sich dafür interessieren. Was der "Unter...

Markus Gabriel: Der Sinn des Denkens

     Peter Sloterdijk ist und bleibt der einzige deutsche Philosoph der Gegenwart. Der junge Philosophieprofessor löste indes den Entertainer Richard David Precht als Deutschlands bekanntester Philosophieunterhalter bereits im Jahr 2011 31-jährig ab, indem der den "Neuen Realismus" begründete, eine Erkenntnistheorie, die nichts als Common Sense mit viel Getue ist. Als er den Sinn des Denkens schrieb, war er ein Jahr älter als ich jetzt, und immer noch ist das seinem Werk angemessene Urteil: Kindergarten!  In einem Buch ohne echte Struktur lädt der Autor seine Leser zu einem gemütlichen Spaziergang durch alle möglichen Denkrichtungen ein, ohne jemals richtig philosophisch zu werden. Aus dem Buche spricht ein privilegierter deutscher Bildungsbürger, das vermeintlich philosophische Werk ähnelt einem Instagram-Account: Guckt, ich bin auf Ischia! Schaut, jetzt bin ich in Chile! Seht da, jetzt lebe ich in Paris! Trotz weitgehend gähnenswerter Flachheit kan...

John Hands: Cosmosapiens

 Eigentlich war schon ausgemacht, dass die Big History von Yuval Noah Harari (eine kurze Geschichte der Menschheit) die beste je geschriebene History of Everything ist. Der Mann hat alle Sympathien auf seiner Seite: er ist Jude, schwul, schreibt spannend und allgemeinverständlich. Aber dann entdeckte ich ein Buch, dessen Existenz ich mir seit meiner Kindheit gewünscht hatte, und das eigentlich unmöglich war zu schreiben. Wie ich irrte. Als ich Cosmosapiens im August 2019 entdeckte, begeisterte mich der Maßstab der Erzählung, die Dichte und die Reflexionshöhe. Es fängt mit dem Urknall an und endet mit der großen Vereinheitlichung der Wissenschaften, der interdisziplinären Bewegung zum nicht hegelschen, sondern eher skynetschen absoluten Wissen. Wissenschaft und Epistemologie, affirmative, kritische und reflexive Darstellung aller großen Fragen der Menschheit gleich hintereinander: wofür zehn Autoren hundert Bücher schreiben müssten, braucht wer ist eigentlich Jo...

Shane Walsh: Kill Them All

 Zombies als Metapher für die ultradekadenten Menschen der Postmoderne: das ist nicht neu und zieht sich als blutroter Faden über Horrorfilme wie Dawn of the Dead und Resident Evil bis zu Komödien wie Zombieland. Das vorliegende Buch mahnt uns, diese Metapher ernst zu nehmen. Der Autor lädt uns zu einem Gedankenexperiemt ein: stell dir vor, du bist mit deiner Familie und deinen Freunden auf einer Farm, deren Besitzer von euch fordert, alle Schusswaffen, die ihr besitzt, außerhalb der Farm zu lagern, während die Welt rundherum von Zombies überrannt wird. Und dann gibt es mitten auf der Farm diese Scheune, in der dieser naive Gutmensch eine ganze Horde Zombies gefangen hält, weil er denkt, das wären kranke Menschen, denen man helfen müsste. Würdest du guten Gewissens einschlafen können, wenn du wüsstest, dass diese sogenannten kranken Menschen jederzeit aus der brüchigen Scheune entkommen und deine Familie töten könnten? Walsh fordert uns alle auf zu tun, was...

Richard Wrangham: Die Zähmung des Menschen

 Der von mir auf Youtube im Herbst 2013 entdeckte russische Biologie Sergey Saveliev ist einer der führenden Aufklärer unserer Zeit, vergleichbar nur mit Steven Pinker und Gunnar Heinsohn. Der Mensch als biologisches Wesen hat drei Ziele im Leben: Essen, Fortpflanzung und Dominanz. Eine weitere These Savelievs ist, dass in prähistorischer Zeit die menschiche(n) Gesellschaft(en) ihren nennen wir es ruhig Zivilisationsprozess durch die negative Auslese (Vertreibung oder Tötung) der Asozialsten und Aggressivsten beschritten. Diese These führt der Anthropologe und Schimpansenforscher Richard Wrangham in seinem Buch von 2019 aus. Von der experimentellen Zuchtwahl der Füchse bis zum Institut der Todesstrafe erstreckt sich eine kurzweilige Reise in die Untiefen der Biologie. Die Todesstrafe als höchster Ausdruck des Gruppenzwangs führte zur Evolution des Konformismus und zum großen Als Ob, dessen aktueller Ausdruck das Gutmenschentum ist: faking morality bzw. virtue si...

Karlheinz Deschner: Abermals krähte der Hahn

 Nach 14 Jahren in der Warteschlange kam dieser Klassiker der Religionskritik diesen Sommer endlich unter meine Lesebrille. Der kirchenkritische Teil, wo die Post so richtig abgeht, wo sich Greueltat auf Greueltat reiht, im Namen Jesu, seiner Mutter und des Wüstenchefs, ist sogar weniger spannend als die kritische Geschichte des christlichen Glaubens selbst. Wie die Religion mit den zahlreichsten Anhängern sich opportunistisch angepasst und ohne theologischen oder philosophischen Sinn fortwährend geändert hat, was alles bei den Heiden, gegen die man dann Vernichtungskriege führte, zusammengeklaut wurde, erfährt man im großartigen Mittelteil des Klassikers. Bevor ich dieses Buch in die Hand nahm, las ich jede Menge wohlwollender, "neutraler" Kirchengeschichte, um nicht gleich mit der Verdammung des Christentums anzufangen. Und doch soll es verdammt sein: es hat die Platoniker bestohlen und pervertiert, die Welt zu einem schlechteren Ort gemacht und seinen...

Walter White: The One Who Knocks

 Als gescheiterter Akademiker war ich durchaus auf die Autobiographie eines Chemielehrers gespannt, der sich mit Ende 20 als "mindestens Professor" sah. Seine Intelligenz hat er stattdessen verschwendet, all sein Fleiß half ihm nichts, da er ein bedauerliches Opfer der eigenen Feigheit wurde. Aus MGTOW-Perspektive erschließt sich ziemlich klar, dass die verfrühte Entscheidung, zu heiraten, ohne Kenntnis der manipulativen und runterziehenden Natur der Frau, ihn risikoscheu gemacht hat: er verpasste in seinen späten 30-ern endgültig den Anschluss an Big Science, und konnte den Fehler, ein wegen eines banalen Streits mit Freunden aufgegebenes Startup nicht auf eigene Faust neu zu gründen, nicht mehr korrigieren, erst recht als bei seinem Sohn eine schwere Behinderung festgestellt wurde. Die gescheiterte Beziehung des an Love-Shyness und zu hoher Intelligenz leidenden Mannes mit seiner ersten Partnerin führte wohl dazu, sich zu schnell für eine andere Frau z...

Brian Greene: Bis zum Ende der Zeit

      Während eines schönen Aufenthalts in Sassnitz in den Zwanzigern diesjährigen Augusts wollte ich ein buchförmiges Andenken mitnehmen, um bei herbstlichem Aufschlag einer neuen Seite jedesmal den Hauch des Meeres zu spüren. Doch ich verschlang das Buch schon vorgestern und desideriere bereits wieder eine bessere Kosmologielektüre. Das Buch ist gar nicht so schlecht, doch das ostentative Bekenntnis zum chthonischen Materialismus, der natürlich so nicht genannt wird, macht vieles kaputt. Der Astrophysiker schreibt über den Anfang, den Höhepunkt (wir!) und das physikomathematisch berechnete Ende des Universums, und stellt dabei immer wieder klar, dass für ihn die wahre Realität in der Wirklichkeit der Elementarteilchen und Naturkräfte besteht. Als Determinist kann Greene nur noch romantisch über den Sinn des Lebens sprechen; das Leben an sich hält er per default für sinnlos, über den individuellen Lebenssinn denkt er nicht wirklich nach, bzw. wie französ...

Kyle Harper: Fatum

      Drei Tage der diesjährigen August-Hitzewelle habe ich mit dieser Neuerscheinung verbracht. Das Original erschien in englischer Sprache bereits 2017, es handelt sich also nicht um ein Buch zur Corona-Krise, und doch ist es gerade heute so aktuell wie seit der Spanischen Grippe nicht mehr. Kyle Reese beschreibt die drei Tage im August 1997 im Imperium Romanum, und zwar die Antoninische, die Cyprianische und die Justinianische Pest. Spoiler: es handelt sich um jeweils verschiedene Krankheitserreger, nur einmal kommt Yersinia pestis vor. Neben den drei demographischen Zäsuren, den Judgment Days ihrer Zeit, kommt der Autor auch auf die klimatischen Bedingungen in der Spätantike zu sprechen, und natürlich auf deren Wandel. Ein Buch, das man aufgrund steigender Spannung und nicht nachlassender Neugier schnell zu Ende liest, obwohl die deutsche Übersetzung einige Sinnfehler enthält, über die man zuweilen stolpert.