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Es werden Posts vom Mai, 2023 angezeigt.

G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik

          Auf dem Heimweg vom Alexanderplatz (drei Kilometer geradeaus nach Norden) las ich Anfang Mai den dritten Band von Hegels Ästhetik. Ich las im Gehen; die Sonne schien, das Suhrkamp-Taschenbuch ist nicht viel größer als ein Smartphone. Zuvor hatte ich die Aeneis von Vergil fast bis zum Schluss gelesen, und nun bestätigte Hegel meinen Eindruck, indem er auf mehreren Seiten ausführte, was ich selbst etwas kürzer gefasst über die Aeneis bereits gedacht hatte. Das Parallellesen von Büchern lässt oft vermutete und manchmal auch unerwartete Überschneidungen geschehen, und erst durch diese Aha-, Oho- und Uhu-Effekte kann man erkennen, wieviel man vom Gelesenen behalten und weiterverarbeitet hat. Zu meiner Zufriedenheit ringen bei mir die Bells durchaus oft. Es war der Juli 2021, als ich aus Ärger über die mit sinnlosem Gelaber mit Mitmenschen vergeudete Zeit die vergilbte Suhrkamp-Ausgabe der Ästhetik ausgrub, vor über 10 Jahren als 20...

David Christian: Zukunft denken

          Der Begründer der Big History schreibt eine Geschichte der Zukunft, genau genommen, der Zukunftsforschung, denn die ersten 75% des Buchs sind ebenjener gewidmet, während diese erst auf den letzten 75 Seiten vorkommt. Es ist das Buch mit der im Verhältnis zur Gesamtlänge längsten Vorrede, zumindest von den Büchern, die mir bekannt sind, und das werden wahrscheinlich nicht mehr als 0,001% sein. Um Wahrscheinlichkeiten geht es auch in diesem Buch. Wie haben wir traditionell (an) die Zukunft gedacht? Was hat das wissenschaftliche Weltbild in unserem Zukunftsdenken verändert? Und schließlich: wie wird die Zukunft sein? Matthias Horx (nahe Zukunft) und Brian Greene (Bis zum Ende der Zeit) gehen als Zukunftsforscher mehr ins Detail, David Christian präsentiert das Gesamtbild.

Johannes Krause, Thomas Trappe: Hybris

          Auch die Forschung zur Entwicklung und Verbreitung der Menschen und Menschenarten über den Globus steht nicht still. Handelt es sich hier noch um die Naturgeschichte des Homo Sapiens oder schon um die Tiefengeschichte des Menschen? Wenn Schwarz, Weiß und Gelb Rassen sind, was wäre dann der Neandertaler, mit welchem jede der früher so genannten Rassen zeugungsfähige Nachkommen hätte zeugen können? Wie haben die Eiszeiten und der vulkanische Winter nach dem Toba-Ausbruch die Menschheit(en)geschichte geprägt? Interessant ist, dass der naheliegendste Weg nicht immer der kürzeste ist. Über den Sinai aus Afrika auszuwandern, scheint der Weg unserer Vorfahren gewesen zu sein, doch sie sind eher über Südjemen ausgewandert, also aus Äthiopien, nicht aus Ägypten, und übers (damals etwas tiefergelegene) Meer, nicht über Land. Und dann haben sie sich verteilt, mit anderen Menschenarten gekreuzt, diese schließlich verdrängt, sich über den Globus ...

Thomas Halliday: Urwelten

          Dieses Buch hätte ich gern als Kind gehabt, aber erstens ist der Autor erst so alt wie ich und zweitens war vor 30 Jahren der Wissensstand über die Urzeit überschaubar. Inzwischen können ganze Lebenswelten aus dem Pliozän und Oligozän, aus der Kreidezeit und dem Kambrium rekonstruiert werden. Und das macht Halliday so bildhaft, dass es dem Leser wie einem Kind geht, das zum ersten Mal über Dinosaurier liest. Es handelt sich womöglich um das beste Buch seiner Art, zumindest in unserer Zeit. Hoffentlich gibt es das nächste Buch dieser Art, die nächste deutliche Verbesserung der Auflösung unserer in die Erdgeschichte gerichteten Kamera, nicht erst in 30 Jahren, sondern schon in 10.

Wladislaw Jachtchenko: Dunkle Rhetorik

          Nichts ist in einer Diskussion besser als die Kraft des besseren Arguments. Doch Argumentieren ist anstrengend, und die Borniertheit des Opponenten oft frustrierend. Die idealen Gesprächsbedingungen für die Kraft des besseren Arguments finden so gut wie nie statt, und ein herrschaftsfreier Diskurs bleibt nur ein Wunschtraum von Jürgen Habermas. Wir werden ständig von anderen Menschen manipuliert. Jede Machtressource wird genutzt, um seinen Willen durchzusetzen. Jeder Wissensvorsprung wird zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der anderen ausgenutzt. Jeder lügt, betrügt, wendet Tricks an. Darum sagt der Rhetorik-Coach: Manipuliere, bevor du selber manipuliert wirst! Die Ratschläge des gelegentlichen Rhetorikweltmeisters (in der Anglosphäre finden Diskussionswettbewerbe nicht nur statt, sondern sind auch sehr beliebt, und Jachtschenko nimmt oft daran teil) sind wissenschaftlich fundiert. Er zeigt nicht nur Tricks, die funktionier...

Jorge Luis Borges: Das Buch der Träume

          Die 1976 erschienene Anthologie des großen Magischen Realisten , der nicht so sehr auf jedes geschriebene wie auf jedes gelesene Buch stolz war, enthält Gedichte, Kurzgeschichten, Aphorismen und Auszüge aus den Werken des Autors und dem Rest der Weltliteratur. Es geht um den Traum, um die Träume, um das Träumen, damit auch um die Träumer. Traumfiguren aus dem Traum eines anderen erscheinen einem im Schatten eines Traums, welcher gemeiniglich als Realität bezeichnet wird. Pro- und kontraphetische Träume, Traumräume, Begegnungen, ursprüngliche, vor der Eliminierung der kognitiven Dissonanz durch den Verstand wahrgenommene Emotionen, sinnige Gedanken, sinnliche Gefühle. Das Buch ist eine Reise nicht auf den Monte Zeballos in Patagonien, sondern ins innere Patagonien des Herausgebers und der herausgegebenen Autoren. Ein Buch, das in keinem verstaubten Bücherschrank eines lebensfeindlichen trockenen Theoretikers, der das Leben nur...