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Es werden Posts vom Juli, 2022 angezeigt.

Lew Gumiljow: Die alte Rus und die Große Steppe

          Was mir schon beim Hören des Audiobuchs im Jahr 2011 auffiel, war, wie wenig sich der russische Historiker mit der Geschichte Russlands selbst beschäftigt: ihn interessieren mal die Chasaren, mal die Wolgabulgaren, mal die Mongolen. Die Nomandenvölker haben in der Tat die, zumindest politische, Geschichte Russlands geprägt. Russlands Herrscherklasse versteht sich bis heute in nomadischer Tradition als despotischer Beherrscher des sesshaften Volkes, nur wollen diese Möchtegern-Mongolen nicht karg und diszipliniert leben (wenn sie es dennoch tun, regieren sie Russland, bei aller Tyrannei, durchaus erfolgreich, siehe Stalin), sondern wie die dekadente westeuropäische Oberschicht. Die Krim, sagte Putin 2014, wird immer russisch, ukrainisch, und krimtatarisch sein. Nun, – und Kiewer Rus wird immer schwedisch, ugrisch, russisch, ukrainisch und weißrussisch sein: das heutige Russland, Moskowien, Ausgeburt des 13. Jahrhunderts, und unter de...

A. S. Puschkin: Jewgeni Onegin

        Ich las Puschkins Meisterwerk einmal als Kind und einmal als Jugendlicher: im Sommer 1999, beim ersten Wiederbesuch des Auswanderungslandes Kasachstan (bzw. des angrenzenden Russlands 400km weiter, wohin die russischen Verwandten inzwischen ausgewandert waren). Die Verserzählung inspirierte mich, wieder auf Russisch zu dichten. Die letzte Begegnung mit Onegin ereignete sich 2012 bei einem Ballett in Berlin: Onegin von John Cranko. Klasse gespielt.  Der an Byron angelehnte russische Dandy zeigt, wie sehr Europa Teil Russlands ist, sorry, umgekehrt. Alles, was in Russland Geist hat, ist europäisch, "westlich", insbesondere anglo- und noch insbesonderer germanophil. Der russische Märchendichter Puschkin gehört zur europäischen, nicht zur "eurasischen" Kultur. Dass die ethnosoziologischen Ursprünge des Russentums tellurischer Natur sind, im Gegensatz zum lunaren romanischen und Mittelosteuropa und der...

G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte

        Die Inder und Chinesen haben zwar eine Kultur und eine Zivilisation, aber keine Geschichte. Die Geschichte des Oströmischen Reiches, später Byzanz genannt, ist zu widerlich, um sich systematisch mit ihr zu befassen. Die Nomaden waren nur Barbaren. Die Perser haben als erstes Geschichtsvolk unterschiedliche Völker zu einem Imperium zusammenerobert. Es galt die Freiheit des Einen: nur der Herrscher war frei. Die Kyrosse, Xerxesse und Dareiosse waren sogar so frei, die Naturgewalten bestrafen wollen zu wollen, wenn diese nicht nach dem Willen des Königs der Könige gewalteten. Die Griechen und Römer kannten die Freiheit Weniger. Die antike Zivilisation führte ein, was der Marxist als Klassen kennt: die Besitzenden und die Besitzlosen, bei Hegel: die Besitzenden und die, die Besitz sind. Die Germanen sind das Volk, das die Menschheitsgeschichte vollendete: ihr Prinzip war die Freiheit aller. Mit der Entwicklung der Abendländischen Z...

Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen

        Tnunja. Vier oder 5 verschiedene Deutschlehrer in einem Jahr, 10. Klasse Gymnasium. Und die letzte von denen stellte die Frage, worum es in Goethes Götz dennnun eigentlich ging. Es war eine Raterunde. Ein Hinweis auf den Unterschied zwischen der Thematik und der Problematik wäre natürlich hilfreich gewesen. Aber die Klasse wurde in keinsterlei Hinsicht an das vermeintliche Thema des Werks herangeführt: die Freiheit des Individuums. Wirklich? Was allen auf der Oberfläche der Zunge lag, war zunächst einmal die seltsame Homoerotik zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren. Und was die Absicht des Autors, des großen Goethe, betraf, damals übrigens kein großer Goethe, sondern ein sexuell vermutlich sehr begieriger Jüngling von 24 Jahren, so war die masturbatorische Absicht richtung einer gewissen Adelheid unüberlesbar. Und ich dachte als Kind, der Name der australischen Stadt Adelaide leitete sich vom legendären König Adelaíd ab und d...

Michael Tomasello: Mensch werden

        Wir sind ja gar keine asozialen Arschlöcher! Im Gegenteil, Menschenkinder entwickeln sich, egal in welcher Kultur oder Zivilisation, sogar prosozial, wenn sie nicht in ihrer natürlichen Entwicklung gestört werden. Tomasello ist einer der führenden Forscher auf dem betreffenden Gebiet. In diesem Buch präsentiert er die Ergebnisse seiner jahrzehntelangen Forschung und zeigt genuin menschliche Entwicklungspfade auf, die sich vom Säuglingsalter bis zum Schulalter entfalten, und sich deutlich von denen anderer Menschenaffen unterscheiden. Gemeinsame Aufmerksamkeit und Intentionalität mit neun Monaten führen über eine egalitäre Ich-Du-Beziehung mit drei Jahren letztlich zu einem Wir als gemeinsamen Akteur mit fünf Jahren. Der Mensch hat eine angeborene Anlage zu Gesellschaft und Kultur. Hypersozialität kann wiederum zu Überanpassung führen, was im Extremfall im Faschismus münden kann: die eigene Gruppe als Wir, die andere Gruppe als Die, u...

Edgar Allan Poe: Poems

        Eine russische Ausgabe von 1998, mit Originaltexten, Übertragungen und Kommentaren. Die mittelmäßigen Gedichte lesen sich in der russischen Sprache sogar besser, besonders übersetzt/übertragen von Balmont. Die guten Gedichte sind dagegen unübersetzbar. Ulalume verliert viel, The Raven fast alles, in eine andere Sprache übertragen. Ulalume ist mir seit September 2019 bekannt, aus einem Werk des zeitgenössischen Philosophen Alexander Dugin. Er hat auch eine eigene Übersetzung des Poems in seiner Noomachie (der Band über u. a. die nord- und südamerikanische Zivilisation). Ein großartiges jungianisches Werk lange vor den Lebzeiten von C. G. Jung. The Raven wurde mir ein paar Jahre früher auf Youtube ohne Kontext gezeigt. Klang beeindruckend, aber ich konnte damals damit nichts anfangen. Am 22.6.2022, im Café Sacher in Wien, las und arbeitete ich das Werk gründlich durch, und die Begeisterung war grenzenlos. Nicht nur das beste Gedicht...

Ray Dalio: Weltordnung im Wandel

        Ray Dalio sollte man kennen. Der versteht was von Wirtschaft. In diesem Buch geht es nicht um soziokulturelle Zyklen (wie bei Pitirim Sorokin) oder Lebenszyklen einer Zivilisation (wie bei Spengler und Gumiljow), sondern um ökonomische Zyklen globaler Machtverhältnisse. Dalio beginnt seine Betrachtung in der Neuzeit, sein erster Hegemon sind die Niederlande. Weltmacht Spanien davor und Fast-Nachfolger Frankreich danach lässt er außen vor. Militärische Macht allein beeinduckt ihn nicht, und in seiner Weltgeschichte war Obervolta mit Atomwaffen nie ein echter Konkurrent der USA. Nachfolger der Niederlande ist Großbritannien, das zweite Rom. Auf dieses folgen die USA, das zweite Byzanz. Allegorisches Allgemeinwissen, nicht Terminologie des Autors. Und nun wirds spannend: nach dem Höhepunkt in den 1950-ern steigen die USA langsam aber stetig ab, während China rasant aufsteigt, insbesondere seit den Reformen Deng Xiaopings. Die Machtkur...

Julius Evola: Metaphysik des Sexus

      Dass die Sexualität die weltimmanente Transzendenz alles Lebendigen ist, schrieb ich 2013, ohne Evolas Werk zu kennen. Dies wird im Standardwerk des Italieners zu meiner Genugtuung bestätigt. Julius Evola (geboren 1898, das Buch 1958 veröffentlich), einer der wichtigsten Kulturphilosophen des 20. Jahrhunderts, bezieht sich immer wieder positiv auf das junge österreichische Genie Otto Weininger (geboren 1880, "Geschlecht und Charakter" 1903 veröffentlicht). Evolas Alter macht den wesentlichen Unterschied aus: Weiningers Betrachtung der Sexualität ist theoretisch-abstrakt, Evola schöpft aus der ganzen Kulturgeschichte der Menschheit. Dem alten Griechenland und dem klassischen Indien fällt die Schlüsselrolle zu. Gegen die moderne reduktionistische Auffassung der Sexualität als bloß tierischer Triebhaftigkeit mit biologischem Zweck (Fortpflanzung) zeigt Evola die Beziehung der Geschlechter in einem ontologisch-theo...