Richard J. Evans: Das europäische Jahrhundert
Russophobie
gehört unter britischen Linksintellektüllen zum guten Ton, daher sollte
der stolze Russe das ständige Foulspiel gegen den Nationaldichter
Puschkin dem J. (steht wohl für "judgmental, not perceiving" nach MBTI)
nicht allzuübel nehmen; der deutsche Leser kann es als creepy abbuchen
und ungestört weiterlesen. Gestört zu lesen, wäre bei diesem langen Werk
ohnehin keine gute Idee.
Das britisch-gemütlich zurechtgelegte 19. Jahrhundert (1815-1914) wird
empirisch und akribisch analysiert. Keine theoretischen Höhenflüge,
dafür ein gewissenhaft recherchiertes Historienwerk. Langsam zeichnet
sich das Bild, das zeigt, dass im Grunde bis zum letzten Drittel des
(kalendarischen, nicht zurechtgelegten) 19. Jahrhunderts alles überall
auf der Welt, selbst in Nordwesteuropa, so war, wie es immer war. Die
Welt aber, wie wir sie kennen, ist erst seit den 1870-er, 1880-er und
1890-er Jahren erlebbare Realität. Mit Verspätung kam die Moderne auch
in entlegeneren Winkeln des Planeten an; für den Großteil der Menschheit
war noch das ganze 20. Jahrhundert nicht das Leben in der Welt von
Heute, sondern der auf- und nachholende Weg dahin.
Unkritisch stimmt der grimmig guckende Autor der feministischen
Geschichtsdeutung zu, wo es um Frauen geht. Doch das Werk ist zu
umfangreich, um es auf das unrefelektierte Simping eines
whiteknightenden Mangina zu reduzieren. Für den historisch Bewanderten
eine angenehme Tea-Time-Wiederholungswanderung, für den Nichtkenner des
19. Jahrhunderts eine geeignete, da unkritische, aber auch eben
weitgehend ideologiefreie, Einführung.
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