Emmanuel Todd: Traurige Moderne
Seit
Jahrzehnten performt der französische Anthropologe Emmanuel Todd
geisteswissenschaftliche Meisterleistungen, während in Deutschland
Geisteswissenschaft längst von Wissenschaft zu Meinung abgestiegen ist.
Damit ist es vorbei sowohl mit Geist als auch mit Wissenschaft. Anders
in Frankreich: dort gibt es noch Meisterdenker. Im heißesten Juni seit
Beginn der Sorge um den Klimawandel, dem abominablen Stadtjuni 2019 (der
als Landjuni womöglich ganz angenehm gewesen sein mag), las ich sein
neuestes und reifstes Werk.
Ausgehend von Familienstrukturen beschreibt Todd die anthropologischen
Wurzeln kultureller Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich,
Zentraleuropa und USA, Nahost und Fernwest. Todd holt weit aus, doch
belohnt den Leser für alle Längen und Denkzumutungen mit weitreichenden
Erkenntnissen, es sei denn, schon das Denken an sich ist für den Leser
eine Zumutung. Oder es hängen Meinungsbretter vorm Kopf, sodass das
Buch, wie in einem gewissen Land zwischen Dänemark und der Schweiz,
unbeachtet bleibt oder negativ rezipiert wird.
Macht Gesinnung dumm? Die Erfahrung wiederholt sich nämlich: ich habe
zahlreiche Neuerscheinungen mit Begeisterung gelesen, und dann aus
Neugier nach der Rezeption dieser Werke in Deutschland recherchiert. Das
Ergebnis waren oberflächliche, meinungsverdummte Verurteilungen, selbst
wenn es um meinungsmäßig ultrawillkommene linksliberale Autoren wie
Steven Pinker handelte (der dem düsterdeutschen Intelektüllen
anscheinend zu amerikanisch-optimistisch ist). Seit Jahren bedeutet eine
negative Rezeption einer geisteswissenschaftlichen Neuerscheinung in
Deutschland im Grunde nichts anderes als eine Leseempfehlung.
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