Posts

Es werden Posts vom Januar, 2023 angezeigt.

Erich Fromm: Vom Haben zum Sein

          Nach der obligatorischen Überdosis Gesellschaftskritik geht es an die konkreten Ratschläge, wie das moderne Individuum vom Haben zum Sein kommt. Meditation, Psychotherapie, Selbstanalyse: Erich Fromm war halt buddhistisch angehauchter Psychologe. Ironie beiseite: was er sagt, stimmt ja, und heute noch mehr als vor 40-50 Jahren, und während ich meine antiquarisch erworbene Ausgabe zuendelas, sah ich die exakt gleiche Neuausgabe des Buchs bei Thadeciusdubel. Es wird also weiterhin verlegt und gelesen. Und? Nun, es ändert sich wirklich viel, und zwar in die falsche Richtung. Die Habensfixierung der Gesellschaft der konformistischen Individualisten hat noch weiter zugenommen, obwohl durchaus manche meditieren, und sich sogar vegan ernähren (fürs Ego meistens, nicht fürs Tierwohl). Die Menschen sind heute noch einsamer, noch entfremdeter, und doch an Psychologie, Selbstanalyse und Nabelschau so interessiert wie nie. Das Haben verb...

Federico García Lorca: Gedichte

            Vieles, was ich vor Lorca für echte, inspirierte Lyrik hielt, ist für mich nach Lorca lediglich Gedankenlyrik. Gedanken aufzuschreiben, gelingt aber besser in Prosa: Gedanken sind logisch, nicht rhythimisch. Begeistert und blumig geht auch ohne Metrum, es sei denn, du schreibst lyrisch genug, dass aus dem Feststoff der Prosa der flüssige Aggregatzustand der Sprache, die Lyrik, entsteht. Sand kann fließen, aber Sand ist kein Wasser. Lyrisch umgebrochene Prosa ist keine Lyrik. Vor allem habe ich Lorca als einen Meister des Kurzgedichts kennengelernt. In einem Kurzgedicht muss jedes Wort passen, jedes Wort sitzen. Inspiration und lyrisches Talent müssen zusammengehen. Uninspiriertes lyrisches Talent produziert nur verstechnokratische Machwerke, Inspiration ohne lyrisches Talent eben halt Gedankenlyrik.

Samira El Ouassil, Friedemann Karig: Erzählende Affen

          Sprechende Affen haben viel zu erzählen. Und der Affe Mensch ist eben ein Erzähler, der sich wohl als Verschwörungserzähler am wohlsten fühlt: Narrative verbinden uns, und erzählen uns, wer der Böse ist. Das Buch ist strukturiert wie eine archetypische Heldenreise nach Joseph Campbell. Dabei will es einerseits die Kritik der auf der Heldenreise basierenden Narrative sein, und andererseits selbst eine Heldenreise im Kampf der Gutmenschen gegen alles, was politisch nicht mehr korrekt ist. Die Bezüge zu Trivialwerken der Filmkunst sowie das kindische Gegendere erinnern den Leser ständig daran, dass es sich bei den Autoren um millenial snowflakes handelt. Und damit verkaufen sich diese zwei durchaus intelligente und durchblickreiche Menschen unter Wert. Verschlimmbesserungen wie der Begriff "Schwarze Personen" für Menschen mit dunkler Haut wirken unfreiwillig komisch, denn der intendierte Euphemismus ist nur einen semantischen K...

Thomas Mann: Tonio Kröger

            Schon damals, Anfang 2002 im Leistungskurs Deutsch, als ich zu Tonio Kröger eine Facharbeit geschrieben hatte (und nach dem Gutachten im Wörterbuch nachschlagen musste, was ein "Pamphlet" ist), konnte ich mit dem Neid des Dichters auf den 08/15-Menschen nichts anfangen. Denn was Tonio Kröger beneidete, war nur Fabrikware Mensch , Mediokrität, die "den Geist nicht nötig hatte"; das war keine geistlose Schönheit , sondern bloße, blöde Gesundheit. Verkannt und unverstanden, zu weiblich für das Geschäfts- und Büropatriarchat seiner Zeit (das wäre er für das heutige Office-Plankton nicht mehr gewesen), wird Thomas Manns Alter Ego Tonio Kröger nur vom künstlerischen und lebenskünstlerischen Rand der Gesellschaft wahrgenommen: wie auch später Hesses Steppenwolf. Ein menschliches Rädchen im Getriebe kaut bei einer Passkontrolle genüßlich das neu und falsch gelernte Wort "Individium" im Mund: Anekdotik, für die mir damals die Heiterkei...

Brian Greene: Die verborgene Wirklichkeit

          Im 2012 erschienenen Buch " Die verborgene Wirklichkeit: Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos " entwickelt der theoretische Physiker und Stringtheoretiker Brian Greene verschiedene Versionen des Multiversums. Die einfachste davon geht einfach davon aus, dass in einem endlichen Universum die Anzahl der möglichen Teilchenkombinationen endlich ist, durch die fortwährende Inflation des Inflatonfeldes seit dem Urknall aber täglich unzählige neue Universen entstehen. Im Urknall-Multiversum wiederholt sich jedes Universum zwangsläufig mehrfach, bis ins kleinste Detail. Unzählige Universen weichen vom unseren nur in allerkleinsten Details ab. Z. B. ist in dieser Buchbesprechung der Tippfehler an einer anderen Stelle. Oder der Sieger der US-Präsidentschaftswahl 2000 heißt nicht nur legitimerweise, sondern auch tatsächlich Al Gore. Spannender ist das Quanten-Multiversum, weil es offenbar eine mathe...

F. W. J. Schelling: Philosophie der Offenbarung

          Nach der Wissenschaft der Logik (2008) und der Enzyklopädie (2009/10) war erstmal Schluss mit Hegel, aber ich wollte nicht zurück zu Kant. Im Sommer 2010 las ich Meister Eckhart, im Herbst Schellings in Vorlesungen ausgeführte Philosophie der Offenbarung. Der theoretische Teil liest sie wie spinozistisch oder mystisch korrigierter Hegel. Der Bezug zur christlichen Trinität ist bei Hegel ebenfalls vorhanden. Für Schelling ist Gottvater das sein Könnende, Gottsohn das rein Seiende und der Geist das sein Sollende. Gott ist apophatisch, Jesus ist kataphatisch, dem Heiligen Geist gehört die Zukunft, wie schon bei Joachim von Fiore. Den Sohn Gottes setzt Schelling mit der Welt gleich, und diese ist aus dem Unwillen Gottes entstanden. Daraus folgt, dass der Gott des Alten Testaments der Teufel des Neuen Testaments ist. Nach dem theoretischen Teil wird es schwach und liest sich wie eine Apologie der ka...

Giorgio Agamben: Homo sacer

            Anfang 2013 im neu erbauten Grimm-Zentrum gelesen. Die Atmosphäre war creepy, die Stimmung gedrückt, doch das Büchlein leider nicht ausleihbar. Für wen diese schmalen Fenster dort sind, die weder praktisch noch ästhetisch sind noch sonst irgendetwas für das menschliche Empfinden Sinnvolles darstellen, fragte ich mich schon damals. Giorgio Agambens Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben gibt darauf eine Antwort. Der moderne Staat betreibt eine Biopolitik, er ist strukturell totalitär und herrscht über alle Lebensbereiche. Der Alltagsmensch nimmt das als bemutternde Rundumversorgung wahr: nanny state . Erst wenn der Staat die als Freiheit verstandene großzügige Einhegung einschränkt, etwa in einer Virus-Pandemie, fällt das auch auf. Was für Erich Fromm die nach innen verlegten Ketten des modernen Sklaven sind, das ist für Giorgio Agamben das stukturelle Konzentrationslager , in dem die souveräne staatliche Macht üb...

Eckart Förster: Die 25 Jahre der Philosophie

          Nach Kant gab es keine Philosophie vor Kant. Nach Hegel gab es keine Philosophie nach Hegel. Die Kritik der reinen Vernunft (1781), und nicht die Philosophie der Vorsokratiker, soll also der Anfang der Philosophie gewesen sein. Mit der Phänomenologie des Geistes (1806) ist die Philosophie derselben Logik nach zu Ende, denn das Werk endet bekannt- oder unbekanntlich mit dem absoluten Wissen . Försters Buch ist somit die kürzeste Philosophiegeschichte, die ja nur 25 Jahre dauerte. Diese 25 Jahre waren wahrscheinlich die produktivsten Jahre dieser Wissenschaft überhaupt, und Förster zeichnet den Weg von Kant zu Hegel, den Übergang, der das Entscheidende gewesen ist, denn kennt man nur Kant und nur Hegel, ohne nachzuvollziehen, warum Kant dort endet wo er endet und wo Hegel seinen Anfang nimmt, nachdem Kant alle weiteren Anfänge für unmöglich erklärte, indem er dem Denken mehrere Grenzen setzte, so versteht man nur Hannover Hauptbahnhof...

Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert

          Ein reiferes Werk als die beiden Menschheitsgeschichten Hararis. Unbedingt lesenswert, dachte auch ich, als ich es im Oktober 2019 las, und irrte mich keineswegs. Wie klar, offen und ehrlich Harari darüber schreibt, dass manche Kulturen besser als andere sind, hat mich angesichts der linksliberalen Ausrichtung des Autors durchaus beeindruckt. Und es ist nicht das einzige linksliberale Tabu, das er bricht. Der narzisstische Krieg um Identitäten ist nur die Oberfläche der Identitätskrise, in die der Mensch als Spezies durch den technologischen Fortschritt geraten ist. Die Sinnsuche angesichts dessen, dass die Wissenschaft, und bald die künstliche Intelligenz, mehr über uns alle und jeden persönlich weiß als wir selbst, wird zur größten Herausforderung. Der künstliche Gott aus der Maschine wird uns bei jedem Versuch, an den herkömmlichen natürlichen Gott zu glauben, laut und transparent auslachen. Auch die untergeordneten Alltags...

Yuval Noah Harari: Homo Deus

          In Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen geht es um, wie es mir deucht, die Devolution des Homo Sapiens Sapiens zum “Homo Deus”: Theozentrismus (ideational) : Ewige Hierarchie Gott-Mensch-Natur (Überich-Ich-Es). Reformierter Theozentrismus (ideational-idealistisch) : Der Mensch braucht Freiheit und Autonomie, um Gott zu dienen. Anthropozentrismus/Humanismus (idealistisch) : Der Mensch ist frei und autonom. Hedonistischer Anthropozentrismus (idealistisch-sensualistisch) : Die Natur (Es) muss berücksichtigt werden, damit der Mensch (Ich) in der Welt glücklich leben kann. Hedonismus (sensualistisch) : Das nach Lust strebende Es ist Selbstzweck. Data-Hedonismus (sensualistisch-nihilistisch) : Die Maschine braucht Macht, um für das nach Lust strebende Es ein hedonistisches Paradies zu ermöglichen. Dataismus (nihilistisch) : Das lebendige Es ist ein veralteter Algorithmus. Es lebe die Maschine! Ich las das Buch im November 2017 mit großer Freude und...

Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit

          Harari ist, wie Hegel, zu intelligent für die Fakten. Umso schlimmer für die Fakten? Nicht, wenn Hegel Realphilosophie betreiben will und Harari brillante aber falsche Schlussfolgerungen über empirische Tatsachen präsentiert. Das Buch ist Big History at its best , die immer noch beste kurze Universalgeschichte. Ich las es 2017 und war begeistert. Aber seitdem finden Einzelwissenschaftler immer wieder Fehler. Etwa, dass der Weizen keineswegs den Menschen domestiziert hat; der Mensch ist durch einen jahrtausendelangen Prozess vom Jäger und Sammler zum Bauer geworden. Einige Jahrtausende lang haben Jäger und Sammler Landwirtschaft nebenbei praktiziert, Sesshaftigkeit war nicht per se alternativlos. Als es immer mehr Menschen gab, konnte sich die Landwirtschaft als bessere Produktionsweise behaupten, indem sie streng hierarchisch organisierte kriegerische Gesellschaften besser satt machte als die Jagd und das Pilzesuchen. Doch land...