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Es werden Posts vom Mai, 2021 angezeigt.

Steven Pinker: Gewalt

        März 2018: Wintereinbruch in Deutschland. Im sich 8 Stunden verspätenden ICE nach Eisenach las ich die ersten 200 Seiten von Steven Pinkers "Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit". Gewalt! Jedes dritte Mädchen! Rape Culture! Black Lives Matter! Noch ein paar Jahre, und Manhattan wird abgeriegelt, um Platz für 3 Millionen Schwerverbrecher zu schaffen, weil die Knäster overcrowded sind und die Kriminalität steigt und steigt und steigt. Sollte ein Flugzeug mit wichtigen Leuten, vielleicht sogar dem Präsidenten an Bord, über der Insel abstürzen, haben wir hoffentlich diesen Badass Snake Plissken, der ihn da rausholt. Alles anders gekommen. Die Gewaltraten sinken weltweit. Das 20. Jahrhundert war selbst mit den beiden mörderischsten Kriegen der Weltgeschichte bis dahin das friedlichste, wenn man nüchtern ausrechnet, wie viele Menschen an Gewalt oder Folgen von Gewalt gestorben sind. Und das 21. Jahrhundert wird noch einmal eine Größenordnung f...

Emmanuel Todd: Traurige Moderne

        Seit Jahrzehnten performt der französische Anthropologe Emmanuel Todd geisteswissenschaftliche Meisterleistungen, während in Deutschland Geisteswissenschaft längst von Wissenschaft zu Meinung abgestiegen ist. Damit ist es vorbei sowohl mit Geist als auch mit Wissenschaft. Anders in Frankreich: dort gibt es noch Meisterdenker. Im heißesten Juni seit Beginn der Sorge um den Klimawandel, dem abominablen Stadtjuni 2019 (der als Landjuni womöglich ganz angenehm gewesen sein mag), las ich sein neuestes und reifstes Werk. Ausgehend von Familienstrukturen beschreibt Todd die anthropologischen Wurzeln kultureller Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, Zentraleuropa und USA, Nahost und Fernwest. Todd holt weit aus, doch belohnt den Leser für alle Längen und Denkzumutungen mit weitreichenden Erkenntnissen, es sei denn, schon das Denken an sich ist für den Leser eine Zumutung. Oder es hängen Meinungsbretter vorm Kopf, sodass das Buch, wie in ei...

Zhuangzi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland

        Kommt ein taoistischer Meister nach Jahren in der Wildnis zurück an den Fürstenhof und führt einen Smalltalk mit dem Fürsten. Seit Jahren lacht der Fürst mal wieder. Später fragt ein hoher Beamter den Meister, wie ihm dies Kunststück gelang, woraufhin dieser erwidert: Wenn man lange in der Wildnis war, hat man wieder Sehnsucht nach Menschen. Und so geht es unserem Fürsten. Erst bezieht der Beamte (und der Leser) die im Original etwas längere Rede des Meisters auf den Meister selbst und wartet auf die Pointe. Doch als ebendiese erweist sich der Umstand, dass der Meister eben nicht von sich selbst, sondern halt von dem Fürsten gesprochen hat: der Fürst hat seit Jahren keine (echten) Menschen gesehen, sondern nur dressierte, kultivierte, aber als Menschen eben halt uninteressante, d. h. eigentlich bloß tierische Leute, wie der Beamte selbst einer ist. Diese kleine Kostprobe aus einer wahren Schatztruhe ist mir besonders in Erinnerung geblieben. ...

Richard J. Evans: Das europäische Jahrhundert

        Russophobie gehört unter britischen Linksintellektüllen zum guten Ton, daher sollte der stolze Russe das ständige Foulspiel gegen den Nationaldichter Puschkin dem J. (steht wohl für "judgmental, not perceiving" nach MBTI) nicht allzuübel nehmen; der deutsche Leser kann es als creepy abbuchen und ungestört weiterlesen. Gestört zu lesen, wäre bei diesem langen Werk ohnehin keine gute Idee. Das britisch-gemütlich zurechtgelegte 19. Jahrhundert (1815-1914) wird empirisch und akribisch analysiert. Keine theoretischen Höhenflüge, dafür ein gewissenhaft recherchiertes Historienwerk. Langsam zeichnet sich das Bild, das zeigt, dass im Grunde bis zum letzten Drittel des (kalendarischen, nicht zurechtgelegten) 19. Jahrhunderts alles überall auf der Welt, selbst in Nordwesteuropa, so war, wie es immer war. Die Welt aber, wie wir sie kennen, ist erst seit den 1870-er, 1880-er und 1890-er Jahren erlebbare Realität. Mit Verspätung kam die Moderne auch in ent...