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Wolfgang Behringer: Der große Aufbruch. Globalgeschichte der frühen Neuzeit

   Lange Desiderat, und erst 2023 erschienen, wurde dieses tausendseitige Buch Frühmitte August bis Spätanfang Dezember 2024 von mir mit großem Interesse gelesen, gerade zu einer Zeit, in der mein Interesse für die(se Art von) Außenwelt sich, höflich gesagt, in Grenzen hielt. Es handelt sich wirklich um eine Globalgeschichte: der Autor versucht, gängige Narrative, so gut es geht, zu vermeiden, und die Geschichte der Menschheit von 1492 bis 1815 möglichst unvoreingenommen zu zeigen, d. h. ohne nachhineinige Hineininterpretation und mit dem Bewusstsein, dass auch Vietnam, Kongo und Brasilien ein Hier sein kann, und beispielsweise das Jahr 1531 nicht schon damals ein zu absolvierender Teil der Geschichte, sondern seinerzeit eben auch ein Jetzt war.

Nassim Nicholas Taleb: Skin in the Game

   Unerwartet moraligeladen präsentiert der coole Trader eine Erweiterung seines trancarnegianischen Gesamtwerks, das für die Orientierung und die Bewältigung des Chaos in der gegenwärtigen Welt lichtblickvolle Klärung erpoltert. Verstärkt wird in diesem Buch der Schwerpunkt auf das Ethos gelegt: Mut zum Risiko, keine Antifragilität auf Kosten Schwächerer, gedankliche und moralische Klarheit werden als postmodernes Ideal des Weisen beleuchtet (was Schatten wirft: viele bekannte Buchautoren und Personen des öffentlichen Lebens kommen als Idioten weg); der ideale Mensch dieser Zeit soll idealerweise Unternehmer sein.

Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt

   Gelesen zweite Hälfte 2024, erinnerte mich das Buch an Egon Flaigs Geschichte der Sklaverei. Aber nicht nur: das Buch liest sich als Korrektiv sämtlicher Gesamtdarstellungen der Weltgeschichte der Neuzeit, die, wie French zeigt, die Rolle Afrikas und der Afrikaner konsequent ausklammern, ohne sich dessen bewusst zu sein.  Es haben sich eben Narrative der Geschichtserzählung gebildet, welche stelenhoch aufgestellte Meilensteine wie die Entdeckung Amerikas, die Reformation und die Französische Revolution zu definitorischen Ereignissen der Neuzeit verklären. Was nicht ins Narrativ passt, wird ausgeklammert, wobei dabei die Globalgeschichte zu einer Märchenstunde für Erwachsene deformiert wird. Insofern ist das Buch von French eine unentbehrliche Verständnishilfe für die (insbesondere atlantische) Globalgeschichte der Neuzeit.

Rutger Bregman: Utopien für Realisten

   Der Niederländer hat die deutsche Gründlichkeit, die französische Lebenskunst und die britische opportunistisch-empiristische Lebenseinstellung im Idealfall vereint, und ist insofern die Orchidee der abendländischen Zivilisation. Die Frische, der die Ernsthaftigkeit nicht zum Opfer fällt, der Optimismus, der nicht in dumme amerikanische Eswirdschonerie oder katholische Schafsreligiösität entartet, die Exaktheit der Fragestellung und Antwortsetzung, die nicht in walddeutsche Scheintiefgründigkeit übergeht: eine Menge niederländischer Autoren, ob der Philosoph Johan Huizinga, der Journalist Bas Kast, oder der ebengeebnete Rutger Bregman, machen das Lesen für den Leser zum leserischen Lesegenuss. Keine Ironie, nur Missachtung der Plebejer-Alltagssprache meinerseits. Allgemein sind niederländische Autoren aufgrund und wegen Genanntem überdurchschnittlich lesenswert, und Bregman halt eben im Besonderen.

Chris Wickham: Das Mittelalter. Europa von 500 bis 1500

   Gekauft Frühanfang Oktober 2023 in Wien, gelesen beginnanfänglich auf der Zugfahrt von Budapest nach Rom, einen Teil davon bei etwas unangenehmer Hitze in einer Pizzeria gegenüber dem Colosseum (draußen). Zuendegelesen: Hochanfang bis sehr früher Spätanfang Oktober. Eine solide Gesamtübersicht, die in der Kürze (das Buch ist mittellang) eher Skepsis walten ließ, doch der Autor schafft es tatsächlich, in einem immonumentalen Übersichtswerk alle wichtigen Aspekte der Epoche klar und verständlich auszudurchen.

Rutger Bregman: Im Grunde Gut

          Dieses Buch sah ich immer wieder in den Buchhandlungen liegen, und überging es bewusst. Eigentlich war mir schon klar, was drin stehen würde. Nur war ich dafür noch nicht bereit. Insbesondere "Mensch werden" von Michael Tomasello öffnete mir die Tür zu einer Erkenntnis, deren Zeit längst reif war: Der Mensch ist gut. Warum wollen wir dennoch glauben, dass der Mensch schlecht ist? Aus Selbstschutz. Aus Ressentiment. Und um eine kognitive Dissonanz zu überwinden. Aus Selbstschutz an das Böse im Menschen zu glauben, ist einfach erklärt: so fallen die eigenen Fehler weniger auf. Die eigenen Missetaten werden als allzumenschlich entschuldigt. Das Ressentiment geht schon tiefer: jemandem ist es im Leben schlecht ergangen, und er hält verbittert an der Ideologie fest, der Mensch sei dem Menschen ein Wolf. Und dann wird er noch Vater und bringt es seinen Kindern bei, die mit diesem Glauben in die Welt hinaus gehen und derart konditioniert u...

Rolf Schäfer, Wolfgang Weimer: Man will leben und muss sterben – Man will tot sein und muss leben

        Auf dieses Buch war ich schon länger neugierig, habe es nun gelesen und nicht bereut. Die Autoren legen sofort los, und der Leser erwartet einen Niveau- , Dichte- oder Spannungsabfall, aber die am Anfang gelegte hohe Latte kann locker gehalten werden. Ja es wird sogar noch spannender, sodass es nicht mehr möglich war, wie ursprünglich gedacht, nach dem ersten Drittel aufzuhören und später auf das Buch zurückzukommen. Der existentielle Ernst und die angemessene Herangehensweise der Autoren haben keine Pause erlaubt. Wer gleich mit der Pointe anfängt, muss sich sicher sein, dass er auf den folgenden 500 Seiten den Leser nicht langweilen wird. Die Pointe ist, dass seitdem wir nicht mehr in Jäger-und-Sammler-Gruppen leben, es gefühlt mit der Welt (insbesondere mit der menschlichen Gesellschaft) bergab geht. Ideal ist für uns, in Gruppen mit knapp über 100 Leuten zu leben, wo wir alle persönlich kennen und uns gegenseitig ohne abstarkte Hi...